: Mensch, Mauer
PERSPEKTIVEN Seit dem 13. August 1961 hat die Mauer Milliarden gekostet – und allein in Berlin 136 Leben. Zudem war sie Kunstwerk und für Günter Roßnagel sogar ein Gartenzaun. Protokolle von Zeitzeugen – und die 13 wichtigsten Zahlen zur Mauer
Es klingt oft, als sei die Mauer von Anfang an so gewollt gewesen, wie sie 1989 stand. Es ist komplizierter: Die Mauer entwickelte eine Eigendynamik. Ulbricht und Chruschtschow wollten 1961 eine Weglaufsperre – aber sie dachten auch, mit ein bisschen Stacheldraht wäre es getan.
Die Wucht der folgenden Grenzdurchbrüche überraschte sie. Die Mauer musste immer perfekter werden. Überrascht waren auch die Militärs, weil sich die Planungen immer mehr ausweiteten: In den Archiven kann man nachlesen, wie in den Anfangsjahren die Verantwortung hin und her geschoben wurde – Bautrupps meldeten Vollzug, obwohl sie ihre Arbeiten gar nicht erledigt hatten.
Neben den technischen trat bald auch ein ästhetischer Anspruch: Die Mauer war ein Stück Herrschaftsarchitektur. Niveauvoll, glatt, erhaben und einheitlich sollte sie nach Westen hin aussehen. Das war die Weisung, verstärkt ab den 1970er Jahren, als die DDR zunehmend um Anerkennung buhlte. Mit der Mauer hatte sich die DDR-Führung ein Denkmal gesetzt, so wie andere Herrscher Kirchen oder Paläste bauten. Technik und Ästhetik waren teuer. Ein 120 Zentimeter breites Element der „Grenzmauer 75“ kostete hunderte Ostmark, 45.000 dieser Elemente wurden verbaut. Hinzu kamen Kosten für Zäune, Gräben, Türme, für Strom, Benzin und Sold bis hin zu Tonnen von Blechabzeichen für ständige „Besten-Wettbewerbe“ unter den Grenzsoldaten.
Über all die Jahre stiegen die Kosten in der Relation schneller als das Staatseinkommen. Zu Anfang der 1970er betrugen sie jährlich etwa 600 Millionen Ostmark, 1989 mehr als 1,2 Milliarden. Da waren die Ausgaben für die Grenzsicherung fast so hoch wie die für Kultur. Die Mauer wurde schon aufgrund ihrer Kosten zu einem „Selbstmörder“, einem Anschlag auf ihre Erbauer.
In den 80er Jahren wuchs die Forderung nach Einsparungen. Das Zauberwort lautete Mikroelektronik. Ein Maßnahmenplan vom 30. Dezember 1988 sah für die Jahre 1991 bis 2000 die Einrichtung von Infrarot-, Mikrowellenschranken und Vibrationsmeldungssystemen vor. Das sollte Beleuchtungskosten sparen und die Todesschüsse vermeiden. Die Mauer wäre zur Hochtechnologiemauer eines elektronischen Überwachungsstaats geworden. Aber das hätte die marode DDR gar nicht mehr stemmen können.
■ Olaf Briese, 47, ist Kulturwissenschaftler an der Berliner Humboldt-Universität. Sein neues Buch heißt „Steinzeit. Mauern in Berlin“.
Dass wir irgendwann anfingen, die Mauer anzumalen, hat sich so ergeben.
Ich bin mit einem Koffer und 600 Mark in Reiseschecks aus Frankreich nach Berlin gekommen. Es war Januar 1982, ich wollte mein Leben ändern. In der Zeit war viel los. Hausbesetzer, Straßenkämpfe, Neue Deutsche Welle. Ich wollte sehen, was die Leute nach Berlin zog. Aber erst mal hatte ich Angst. Ich konnte kein Deutsch, ich hatte keine Ahnung, wo ich hin sollte. Ich mochte den Song „Berlin“ von Lou Reed – und so bin ich nach Kreuzberg zur Mauer gefahren und zufällig im Kulturzentrum Rauch-Haus gelandet, wo ich dann zwanzig Jahre wohnen sollte.
Als ich die Mauer das erste Mal gesehen habe, kam sie mir sehr klein vor. Sie war immer präsent. Das Leben an der Mauer war ganz anders, als Lou Reed gesungen hatte. Es war nicht besonders schön. Ich fand die Melancholie an der Mauer furchtbar, von morgens bis abends ist nichts passiert. So eine Tristesse, alles total künstlich. Die Deutschen haben die Mauer ignoriert, viele haben Umwege gemacht, um die Mauer nicht zu sehen. Später habe ich herausgefunden, dass Lou Reed nie in Berlin gewesen ist. Der ist in New York in die Bücherei gegangen und hat alles abgeschrieben. Was für ein Idiot.
Dann stand die 750-Jahr-Feier von Berlin vor der Tür, ganz Kreuzberg bekam einen neuen Anstrich verpasst. Wir drei – Christoph Bouchet, Kiddy Citny und ich – haben die Farbreste gesammelt. Wir sind mit einer Leiter und ein paar Rollen losgezogen. Schnell haben wir ganze Mauersegmente bemalt. Zwei Ideen, drei Farben – und das Bild war fertig. Das war keine Kunst, bei der man sich Zeit gelassen hat. Es war aber auch politisch, denn es war illegal.
Wir haben pro Jahr einen Kilometer bemalt. Die Westberliner waren misstrauisch. Zuerst fanden sie das doof, schrecklich, aber später kamen Leute, die unbedingt mitmalen wollten. Wir waren die Ersten, die die Mauer richtig zugemalt haben. Vorher standen da nur Parolen: Gegen die Amerikaner, gegen die Türken. Wir haben viel geredet mit den Leuten, manchmal länger, als wir gemalt haben. Wir haben sie gezwungen, sich mit der Mauer auseinanderzusetzen, sie mit dem Ungeheuer konfrontiert.
Als die Mauer gefallen ist, habe ich nicht geweint um meine Bilder. Sie waren eine Mutation der Kultur, die durch die Mauer ausgelöst wurde. Heute wird das Street-Art genannt.
■ Thierry Noir, 53, lebt in Berlin-Schöneberg. Ab Mitte der 1980er Jahre bemalte er die Westseite der Berliner Mauer mit farbenfrohen Eierköpfen.
Die Linien U6 und U8 gehörten zur West-U-Bahn, führten aber teilweise durch das Hoheitsgebiet der DDR. Für uns Fahrer war die Strecke ganz angenehm, weil man immer einen Zugbegleiter dabei hatte, für den Fall, dass etwas passiert.
Außerdem waren die Grenzbahnhöfe im Westen so gut bewacht, dass gleich zwanzig Polizisten gekommen sind, wenn es mal Ärger mit einem Fahrgast gab. Wir mussten dort immer ausrufen: „Letzter Bahnhof Berlin-West. Letzter Bahnhof Berlin-West!“ Es hätte ja sein können, dass Republikflüchtlinge im Zug sitzen. Die Fahrt selbst hat nur etwa eine Viertelstunde gedauert und ging vor allem durch Geisterbahnhöfe, die ganz dunkel mit so einer Art Notbeleuchtung bestrahlt waren. Anfangs sind dort noch Grenzsoldaten zu zweit über die Bahnsteige gelaufen und wir haben uns hin und wieder zugewinkt. Denen haben wir auch Zeitschriften, die nicht mehr gebraucht wurden, mitgebracht. Der Begleiter hat dann während der Fahrt die Tür aufgemacht, die Zeitschriften rausgehalten, und die Grenzsoldaten haben sie genommen.
Später saßen die Soldaten in abgetrennten Häuschen am Ende des Bahnhofs, und wir haben sie nicht mehr gesehen.
Es gab nur einen DDR-Bahnhof, an dem die U-Bahn gehalten hat: Friedrichstraße. Dort konnten die Westberliner in die S-Bahn umsteigen. Was auch eine schöne Sache war: Es gab Intershops, in denen sich die Leute zollfrei mit Zigaretten und Spirituosen eindeckten und zurück in den Westen fuhren. Entsprechend viel hatten die Zollbeamten am Mehringdamm zu tun.
■ Bernd Walczak, 57, fuhr von 1977 bis 1983 als U-Bahn-Fahrer unter Ostberlin hindurch.
RECHERCHE TIMO KATHER, JAN PEDD & SEBASTIAN FISCHER ILLUSTRATION DIETER JÜDT
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