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Der Tod kam im Sack mit Lebensmitteln

Über eine Million Iraker sind seit Beginn der ethnischen Gewalt 2006 im eigenen Land auf der Flucht. In einem Camp am Rande der kurdischen Stadt Suleimania haben arabische Familien Zuflucht gefunden. Das Leben hier ist schier unerträglich

AUS SULEIMANIA INGA ROGG

Der Tod war in einem Sack mit Lebensmitteln versteckt. Die Frau von Dschebar Mohammed Dscharulla und seine Schwester hatten keine Chance. Als sie den Sack entleeren wollten, explodierte der Sprengsatz und zerfetzte die beiden Frauen. Der 59-Jährige erzählt es mit tonloser Stimme, den Blick verloren auf einen fernen Punkt gerichtet. Er nestelt in der Seitentasche seiner beigen Dischdascha, dem typischen arabischen Männergewand, und zieht einen klein gefalteten Papierstapel hervor. Es sind Totenscheine, ausgestellt vom Leichenschauhaus in Bagdad.

Langsam faltet er die Papiere auseinander, streicht sie glatt und fährt mit den Fingern an den Namen entlang, die darauf aufgelistet sind. „Mein Bruder, meine Neffen“, sagt er leise. Zwölf Angehörige hat Dschebar Mohammed Dscharulla in den vergangenen Monaten verloren. Sechs kamen bei Bombenanschlägen ums Leben, ein Bruder und vier Neffen wurden auf offener Straße erschossen, und von einem weiteren Bruder fehlt jede Spur. Sie wurden Opfer des gnadenlosen Kriegs, den sunnitische und schiitische Extremisten im Stadtteil Dora führen.

Nach dem Verlust seiner Frau vor knapp zwei Wochen sah Dscharulla, nach eigener Auskunft selbst Sunnit, für sich nur noch einen Ausweg. Er packte ein paar Habseligkeiten ein, setzte sich in sein Taxi und folgte dem Treck der Vertriebenen. Gestrandet ist der Witwer in Kalawa am südlichen Stadtrand von Suleimania, der kurdischen Großtadt im Nordosten des Iraks, die im Rest des Landes für ihren Wohlstand bekannt ist.

Doch von den Prunkbauten mit ihren glitzernden Metall- und Glasfassaden, die in der Stadt aus dem Boden sprießen, ist das Lager, in dem Dscharulla Zuflucht gefunden hat, himmelweit entfernt. Auf einer Geröllwüste campieren etwa 70 arabische und ein paar kurdische Familien. Mit Zelt- und Plastikplanen haben sie sich notdürftige Behausungen geschaffen, kein Busch oder Baum spendet ihnen unter der sengenden Hitze des Hochsommer Schatten.

Rund 89.000 Iraker sind nach Angaben des Irakischen Roten Halbmonds in den vergangenen 15 Monaten nach Kurdistan geflohen. Etwa 10.000 suchten in der Provinz Suleimania Zuflucht. Insgesamt sind seit dem Ausbruch der religiösen Gewalt zwischen Sunniten und Schiiten Ende Februar 2006 mehr als eine Million Iraker innerhalb des Landes auf der Flucht.

Viele irakische Provinzen gehen mittlerweile mit scharfen Reglementierungen gegen den Zuzug von Vertriebenen vor. In Nadschaf und Kerbela dürfen sich nur noch Bürger niederlassen, die nachweisen können, dass sie in den heiligen Städten geboren wurden. Die Kurden haben nach den Bombenanschlägen in Erbil und Mahkmur im Mai die Restriktionen gegenüber Arabern weiter verschärft. Nicht nur werden arabische Reisende an den Checkpoints der Zufahrtsstraßen in die Region penibel gefilzt, in manchen Orten müssen sich Vertriebene, die bereits eine Niederlassung besitzen, einer neuerlichen Sicherheitsüberprüfung unterziehen.

Eine Aufenthaltsbewilligung und Arbeitserlaubnis erhalten die Vertriebenen ohnehin nur, wenn sie einen kurdischen Bürgen vorweisen können. Den brauchen sie auch, um eine Wohnung oder ein Haus zu mieten. Damit wollen die Behörden verhindern, dass sich im Schlepptau der Vertriebenen sunnitische Dschihadkrieger einschleichen. Es ist aber nicht nur die Angst vor den Extremisten, die den Arabern in Kurdistan entgegenschlägt. Viele Kurden sehen in ihnen schlicht Vertreter des Regimes, das sie so viele Jahre geknebelt und verfolgt hat.

Wie so oft sind es die Ärmsten der Armen, die am Ende die Verlierer sind. Seit einem Jahr lebt Samira Dschassem mit ihrem Mann und den vier Kindern in dem erbärmlichen Lager von Kalawa. Geld, um sich eine Wohnung zu mieten, hat die Familie nicht. Nach einem Bombenanschlag auf die Schule ihrer Kinder ist die Familie aus Bagdad geflohen. Doch auch in Suleimania können die Kinder nicht zum Unterricht, da es hier nur eine Schule gibt, an der auf Arabisch unterrichtet wird. Ihre Klassen sind heillos überfüllt. Noch schlimmer ist es für die Frau jedoch, dass die Vertriebenen das Lager neuerdings nicht mehr verlassen dürfen. „Mein Mann könnte arbeiten“, sagt die 33-Jährige. „Statt dessen leben wir hier wie Bettler von Almosen.“

Hiwa Dschaff, der in der Provinzregierung für die Vertriebenen zuständig ist, macht die Regierung in Bagdad für die Not der Vertriebenen von Kalawa verantwortlich. Bagdad zahle die zugesagten Hilfsgelder nicht, sagt er. „Bei uns ist jeder willkommen. Doch fehlen uns einfach die Mittel.“ Dem widersprechen jedoch Hilfsorganisationen. Sie werfen den Lokalpolitikern vor, Hilfsleistungen zu veruntreuen und die Suche nach einer Unterkunft für die Vertriebenen auf die lange Bank zu schieben. Seit Wochen dauert der Streit schon an. In Vergessenheit gerät dabei beinahe das Leid, mit dem Dschebar Mohammed Dscharulla oder Samira Dschassem leben müssen.

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