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„In der Religion gibt es keinen Zwang“

TUNESIEN Der Führer der islamischen Ennahda-Partei, Rachid Ghannouchi, ist ein Mann des offenen Worts

INTERVIEW DANIEL BAX UND TSAFRIR COHEN

taz: Herr Ghannouchi, die Ennahda hat für die Präsidentschaftswahlen keinen eigenen Kandidaten aufgestellt. Ist Ihre Partei in der Krise?

Rachid Ghannouchi: Nein. Ennahda war an der Regierung, ist immer noch zweitstärkste Partei. Wir haben keinen Kandidaten aufgestellt, weil wir in anderen Ländern wie in Ägypten gesehen haben, wohin eine starke Polarisierung zwischen Islamisten und Säkularisten führen kann. So ein Szenario wollen wir in Tunesien vermeiden.

Die neue tunesische Verfassung, die im Januar verabschiedet wurde, gilt als säkularste Verfassung der arabischen Welt. Hat es Sie viel Überwindung gekostet, ihr zuzustimmen?

Nein, wir sind sehr stolz auf diese Verfassung, und wir haben sie nicht nur unterstützt, sondern an ihrer Ausarbeitung mitgewirkt. Ich sehe sie auch nicht als eine säkulare Verfassung, sondern als eine, die Islam, Demokratie und Modernität vereint. Zwischen einem moderaten Säkularismus und einem moderaten Islam sehen wir auch keinen Konflikt.

Die Verfassung gewährt eine sehr weitgehende Glaubensfreiheit, zu der auch die Abkehr vom Glauben gehören kann.

Das ist etwas, das schon im Koran steht: es gibt keinen Zwang in der Religion.

Trotzdem gilt Apostasie in manchen arabischen Ländern als Verbrechen.

Leider ist das eine Interpretation, der manche Menschen anhängen. Aber ich teile sie nicht. Es gibt seit jeher eine Freiheit und eine Vielfalt der Interpretationen des Islam. In meinen Schriften und in Büchern, die ich schon in den frühen neunziger Jahren geschrieben habe, habe ich dargelegt, dass der Islam die Glaubensfreiheit garantiert, und dabei gilt beides, den Glauben anzunehmen und ihn abzulegen.

Demokratie und Menschenrechte, wie stehen Sie zu diesen Werten?

Die tunesische Verfassung steht auf zwei Säulen: den Prinzipien des Islam und den Prinzipien der Moderne und der Menschenrechte, die ein Produkt der Aufklärung sind. Die Erklärung der Menschenrechte wurde von Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft verfasst.

Es gibt Gruppen, die versuchen, ihre Interpretation des Islam mit Gewalt durchzusetzen.

Dieses Phänomen basiert auf einer extremen Auslegung des Islam, es ist aber auch das Produkt einer bestimmten politischen und sozioökonomischen Situation, die solche abnormalen Menschen produziert. Aber das ist keine Spezialität der islamischen Welt. Extremistische terroristische Organisationen hat es zu verschiedenen Zeiten und in allen möglichen Ländern gegeben. Man denke nur an die Baader-Meinhof-Gruppe oder die Roten Brigaden in Italien. Um ihnen das Wasser abzugraben, braucht es zwei Dinge: Demokratie und Entwicklung.

Tunesien exportiert dennoch sehr viele Dschihadisten.

Die Leute, die jetzt in Syrien sind, sind nicht vier Jahre alt. Sie sind nicht das Produkt der tunesischen Revolution, sondern unter Ben Ali aufgewachsen. Man muss diese Dinge ernst nehmen, aber man muss auch ihre Ursachen verstehen. Dieser gewalttätige Extremismus ist eine Reaktion und ein Resultat der Diktatu- ren, unter denen diese jungen Menschen aufgewachsen sind – Ben Ali, Gaddafi, Mubarak, Assad, Saddam Hussein. Wer Diktaturen sät, erntet Terrorismus.

Trotz allem misstrauen Ihnen viele, auch im Westen.

Egal, wie viel wir über einen moderaten Islam reden und darüber, dass er mit Demokratie und Menschenrechten vereinbar ist – es gibt andere, lautere Stimmen: der IS, al-Qaida und andere Extremisten. Darum ist es umso wichtiger, dass wir in Tunesien zeigen, dass Islam und Demokratie vereinbar sind – nicht durch Worte, sondern durch Taten. Daran soll man uns messen.

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