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Unsichtbare HeldInnen des urbanen Alltags

Schreckliche, lebenswerte Großstadt: Die Wilhelmsburger „Insel-Lichtspiele“ widmen sich in diesem Jahr unter dem Motto „Groß / Stadt / Leben“ dem urbanen Erleben im Kino

Kein Teil dieser Stadt wird diesen Sommer angesichts von Internationaler Bauausstellung und kreativ-nachhaltig-innovativem Sprung über die Elbe derart mit Kultur bedacht wie der Süden. Ob mit dem „DanceKiosk“, der „Hafensafari“ oder dem „Dockville“-Festival, der „IBA Kultursommer“ weiß die Veddel, Wilhelmsburg und den Harburger Binnenhafen erfolgreich in Szene zu setzen. Dass der Fokus der Stadtentwicklung in den nächsten Jahren auf dem wassernahen Süden liegt, daran kommen auch alteingesessene Kulturveranstaltungen wie die Wilhelmsburger Insel-Lichtspiele längst nicht mehr vorbei. Die stellen ihr diesjähriges Open-Air-Kino im vorstädtisch-idyllischen Reiherstiegviertel denn auch unter das Motto „Groß / Stadt / Leben“ und geben sich mit dem Thema „Urbanes Erleben im Kino“ einen losen Faden durch das 11-tägige Programm.

Dass die Welt ein schrecklicher und eben doch lebenswerter Ort ist, versucht zum Auftakt heute Abend der Österreicher Michael Glawogger („Working Man’s Death“) zu zeigen. Seine Halb-Doku „Megacities“ von 1998 verwebt zwölf Geschichten aus vier gigantischen urbanen Gebilden – Mumbai (ehemals Bombay), New York, Mexico City und Moskau – und verknüpft Glawoggers Beobachtungen mit dem alltäglichen Leben einzelner BewohnerInnen. Allen ist dabei gemeinsam, dass sie an vorderster Front mit den prekären Lebensbedingungen innerhalb der Moloche konfrontiert sind und sich ihren Lebensunterhalt durch körperlichen Einsatz unter bisweilen extremen Formen erarbeiten müssen. So spielen die ersten beiden Episoden in den Slums vom Mumbai und zeigen verschiedene Möglichkeiten des Geldverdienens: Kinder treten als Straßenmusikanten auf, der „Bioskop-Mann“ kurbelt zusammengenähte Bollywood-Filmstreifen über sein altertümliches Vorführgerät. Bevor es zum bunte Hemden verkaufenden Straßenhändler in New York geht, macht Glawogger noch einen Abstecher in eine kleine Fabrik in Mumbai: Hier werden die Hemden produziert. Auch wenn „Megacities“ auf diese Weise die enge Verzahnung der urbanen Zentren in Zeiten der Globalisierung aufzeigt, ist der Film keine politische Reportage und bietet keine Sozialanalyse an: Über die Strukturen, innerhalb derer das alltägliche Überleben der Großstadtbewohner stattfindet, erfährt man nichts. Dafür umso mehr über den Zwiespalt zwischen schönem Bild und prekärer Situation. Und am Ende steht: „I am happy.“

Die Kunst des alltäglichen Lebens in der Großstadt steht auch am nächsten Abend im Mittelpunkt, wenn es ins senegalesische Dakar geht. Faat Kiné ist dort die erfolgreiche Geschäftsführerin einer Tankstelle, als sie am Tag des Schulabschlusses ihrer Kinder auf ihre traumatische Vergangenheit zurückblickt: Vom Vater enterbt und von den Vätern ihrer Kinder verlassen, war es ihr unmöglich, beruflich das zu werden, was sie wollte: Anwältin. Doch ihr Leben als allein erziehende Mutter und Geschäftsfrau führt sie selbstbewusst und unabhängig. Und so stören auch die zur Abschlussfeier den fürsorglichen Vater mimenden Erzeuger der Kinder nicht lange. Vom eigenen Sohn wird der eine schließlich mit dem Vorwurf, eine Schande für das junge Afrika zu sein, herausgeworfen. Der mutige und humorvolle Film über und für Frauenemanzipation im Senegal ist der zweite Teil der Trilogie „Heroisme au quotidien“ („Heldentum im Alltag“) des senegalesischen Regisseurs Ousmane Sembène und eine herbe Kritik der patriarchalischen Gesellschaft und des rücksichtslosen sexuellen Verhaltens vieler Männer, die trotz polygamer Lebensweise in Zeiten von AIDS ihren Frauen Sex ohne Kondome zumuten.

Lose am Faden entlanghangelnd geht es dann weiter mit „Das Leben der Anderen“, „One Day in Europe“, „Code 46“, „Taxi – eine Nacht in Buenos Aires“, „Beijing Bicycle“, „Paris, je t’aime“, „Night on Earth“, „Babel“ und „Kurz und schmerzlos“.

ROBERT MATTHIES

Do, 16. 8. bis So, 26. 8., je 21.30 Uhr, Biergarten „Zum Anleger“, Vogelhüttendeich 123, 3 €; Programm unter www.insel-lichtspiele.de

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