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War Mutti Grunge?

Zwischen Kuschelrock und Kurt Cobain: Unsere Kinder werden wissen wollen, wo wir standen

Sommer 2023. Ich sitze mit meiner dreizehnjährigen Tochter abends im Wohnzimmer und wir schauen die Tagesschau. Vor ein paar Tagen hat es Gespräche zwischen Nord- und Südkorea gegeben, erstmals können die Menschen nun ungehindert die Grenze zwischen beiden Ländern passieren. Der Blick meiner Tochter wandert von den Bildern fröhlicher Grenzgänger zu dem alten taz-Plakat an unserer Wohnzimmerwand. Ein junger Mann reicht darauf einem Grenzwächter von der soeben gefallenen Berliner Mauer eine Ausgabe der tageszeitung herüber.

„Mutti, was hast Du eigentlich beim Mauerfall gemacht?“, fragt sie. „Dasselbe, was du deinen Kindern erzählen wirst, wenn sie dich fragen, was du bei der Koreavereinigung getan hast: ich habe ferngesehen!“

Im Stillen erinnerte ich mich, wie sich mir 1989 als Elfjährige ein graphisches Rätsel auftat: Ich schaute mit meinen Eltern Samstags immer die Tagesschau, meist nach dem Wochenendbad in der Badewanne. Im gemütlichen Frotteeschlafanzug ließ ich geduldig die Nachrichten mit Dagmar Berghoff über mich ergehen und freute mich auf die folgende „Hitparade“ mit Dieter Thomas Heck, oder „Wetten dass“ mit Frank Elstner.

Während Dagmar Berghoff also aus dem Weltgeschehen vorlas, war im Hintergrund dann und wann eine Landkarte von Deutschland eingeblendet. Ihr linker Teil war komplett gelb eingefärbt, der restliche Teil der Karte war grau unterlegt mit einem kleinen gelben Fleck irgendwo im oberen Teil. Es gab mir nun sehr zu denken, als eines Tages plötzlich die ganze Karte gelb war – irgendetwas musste passiert sein. Meine Eltern waren sehr ergriffen von der „Deutschen Einheit“, wie sie die Gelbwerdung Deutschlands nannten.

Es gab in der Schule plötzlich neue Mitschüler, die aus dem ehemals grauen Teil bei Dagmar Berghoff kamen. Sie waren seltsam gekleidet, irgendwie wie meine Eltern auf Fotos von vor zehn Jahren. Sie erzählten, was es „dort“ nicht gegeben hatte, Bananen und Telefone zum Beispiel. Für mich war das damals unvorstellbar, genau wie es für meine zukünftige Tochter unvorstellbar sein wird, wenn ich ihr erzähle, dass es in meiner Jugend keine Handys gab. Das Telefon meiner Familie war von der Post gemietet und hatte seinen festen Platz im elterlichen Wohnzimmer. Dieser Zustand führte ständig zu Streit, denn zum einen war der einzige Fernsprecher dauernd besetzt und zum anderen gab es ja auch keine Flatrates. Telefonieren konnte teuer und mit Telefonverbot bestraft werden – ein unzumutbarer Zustand, der bedeutete, dass man sich nur in der Schule mit seinen Freunden verabreden konnte. Eltern schlugen so zwei Fliegen mit einer Klappe: Man musste in die Schule gehen, um überhaupt mit seinen Freunden sprechen zu können. Und Freunde sind in dieser Zeit das wichtigste auf der Welt. Man teilt mit ihnen alles, die ersten Liebeleien, die verhassten Lehrer und die Musik.

„Mutti, warst du Grunge?“, fragt mich meine Tochter plötzlich. Auf diese Frage hole ich merkwürdig aufgeregt aus und erkläre ihr erst mal, wie Grunge zu Beginn der neunziger Jahre wie eine musikalische Bombe einschlug. Den Anfang machte die Band Nirvana, die Musik war anders als alles, was man bis dato kannte. Ihr Sänger Kurt Cobain traf mit seiner drogengeschwängerten melancholisch-düsteren Stimmung die Gefühlslage der damaligen Jugend, die sich bisher mit den endlosen Gitarrensoli langhaariger Heavy-Metal-Fraktionen zufrieden geben musste. Entweder man war Bon-Jovi-Fan und damit auch verdächtig, im Besitz von Kuschelrock-Platten zu sein. Oder man stand auf „härtere“ Bands, Metallica und Guns ‚n‘ Roses, wahrscheinlich wegen ihres Luftgitarrenfaktors.

Aber nachdem Nirvana mit „Smells like teen spirit“ auf der akustischen Bildfläche erschienen war, fragte man sich, wie es je etwas anderes gegeben haben konnte. Der arme Axel von Guns‘n Roses hatte mit seinem Hüftschwung in engen Lederhosen quasi über Nacht keine Chance mehr gegen die grobgestrickten Ringelpullis von Kurt Cobain. Die Menschheit zwischen dreizehn und achtzehn Jahren war plötzlich kollektiv in eine Depression verfallen, die eng verknüpft war mit karierten Holzfällerhemden aus Flanellbaumwolle und Chucks-Turnschuhen. Und nach Cobains Selbstmord per Schrotflinte wartete eine ganze Generation in zerrissenen Jeans auf die Apokalypse. So weit die Legende.

„Ja, aber warst du Grunge?“, hakt meine Tochter ungeduldig nach. Naja. Eigentlich war es mein Bruder, der alle Platten von Nirvana hatte und im Keller fleißig E-Gitarre lernte. Ich selbst war nie so wirklich in Weltuntergangsstimmung, auch wenn ich mir die Platten auf Musikkassette überspielt habe, um mich versuchsweise ins Grungegefühl hinein zu versetzen. Der Kompromiss bestand dann in der MTV unplugged Platte von Nirvana – die kam dem eher niedrigen Depressionsfaktor von Kuschelrock nämlich gefährlich nahe. Leider merkt das auch meine Tochter, als ich ihr zum Beweis meiner Zugehörigkeit zur Grungegeneration die CD vorspiele. Spätestens nachdem deutlich wird, mein Lieblingstrack offenbar das Liebeslied am Ende der Platte war, steht für sie fest, dass ich nicht in kaputten Jeans auf die Apokalypse gewartet habe, sondern bloß auf jemanden, der mich „My Girl“ nennt und darüber verzweifelt, wo ich letzte Nacht schlief.

Ich merke, wie ich meiner Tochter gerne das Bild einer Mutter liefern würde, die eine Generation mitgeprägt hat und selbst von den heute historischen Ereignissen ihrer Jugend maßgeblich beeinflusst worden ist. Schließlich kann ich mich gut erinnern, wie ich meine eigenen vermeintlichen Achtundsechzigereltern mit Fragen gelöchert habe. Hatten sie sich bei einem Sit-In kennen gelernt? Oder gehörten sie zu den Blumenkindern? Entspricht die Optik auf LSD wirklich den Plattencovern der späten Beatles-Alben? Als meine Mutter auf meine hartnäckigen Nachfragen eine kleine Mao-Bibel aus einer ihrer Handarbeitsschubladen kramte, wähnte ich mich damals am Ziel meines erwünschten Elternklischees angekommen. Als ich aufgeregt die erste Seite des roten Büchleins aufschlug, las ich dort Mamas Mädchennamen in Schönschreibschrift. Ansonsten sah das Taschenbuch ziemlich ungelesen aus. Und auch die ausschweifende Erzählung meines Vaters, man habe früher auch schon mal was anderes geraucht als Ernte 23, konnte meine Vorstellungen von wahren Hippieeltern nicht erfüllen. Sie waren genauso wenig Achtundsechziger gewesen wie ich Grunge.

Bedeutend waren für sie und mich Nebensächlichkeiten, die leider legendenuntauglich sind: Der Tag, an dem meine Eltern endlich einen Anrufbeantworter kauften. Oder als die neuen Mitschüler aus der ehemaligen DDR sich schließlich Levi‘s 501 Jeans anzogen, und damit als potenzielle Kuschelpartner zu „Where did you sleep last night“ in Frage kamen – ich war nicht Grunge, aber Grunge war der Hintergrundsoundtrack meines Erwachsenwerdens.

Als meine Tochter an diesem Abend im Bett liegt, lege ich noch ein wenig Wäsche zusammen. Dabei fällt mir ein Retro-Nirvana-T-Shirt in die Hände – meine Tochter muss es sich neu gekauft haben. Aufgedruckt ist das Konterfei von Kurt Cobain und darunter steht: „You are better than Ernie and Bert, Kurt“.

I hope this won‘t hurt, Kurt.

SIMONE MIESNER, Jahrgang 1977, lebt als Politologin in Berlin und findet, dass der Zusammenhang von Politik und Kosmetik eines der letzten Tabuthemen ihrer Generation ist

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