: „Karriere macht krank“
SEELE Die Therapie von psychisch Erkrankten sollte sich mehr an deren Alltagsrealität orientieren, sagt der Gesundheitsforscher Wolfgang Schneider
■ 59, Arzt und Psychoanalytiker, ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Klinik der Universität Rostock und Geschäftsführer des Gesundheitsforschungsinstituts IPGO
INTERVIEW BARBARA DRIBBUSCH
taz: Herr Professor Schneider, psychische Störungen nehmen laut den Gesundheitsstatistiken beständig zu. Geben Ärzte diese Diagnosen heute leichter als früher, wenn ein Patient über schlechtes Befinden klagt?
Wolfgang Schneider: Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass es zu einer Zunahme der psychischen Erkrankungen gekommen ist. Diese Erkrankungen steigen nämlich auch an in Ländern, die einen ganz anderen soziokulturellen Versorgungsstandard aufweisen als bei uns. Die Kompetenz und auch die Bereitschaft der Ärzte, etwa Depressionen oder Angststörungen zu diagnostizieren, hat aber sicher auch zugenommen. Belastungen werden heute von den Menschen eher psychisch abgebildet und weniger körperlich als früher.
Welche veränderten Umweltbedingungen sorgen für den Anstieg?
Es gibt immer mehr Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor. Das stellt höhere Anforderungen an die interaktionellen Kompetenzen der Beschäftigten. Die Leute müssen heute eigenverantwortlicher arbeiten, die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit sind fließender. Die Menschen müssen mobiler sein, die sozialen Netze sind weniger beständig. Hinzu kommt die Prekarisierung, die Angst um den Job, die breite Schichten verunsichert.
Welche Bedingungen im Berufsleben sind denn Ihrer Meinung nach besonders nachteilig für die Psyche?
Forschungen belegen, dass sich geringe oder fehlende Anerkennung am Arbeitsplatz auf die seelische Befindlichkeit besonders negativ auswirken, neben der Arbeitsplatzunsicherheit oder geringer Bezahlung. Man konnte sogar nachweisen, dass diese „Gratifikationskrisen“ zu einem veränderten Muster der Ausscheidung von Stresshormonen und einer verstärkten Aktivierung von Entzündungsproteinen führen.
Gibt es einen Typus des Erwerbstätigen, der zu psychischen Störungen neigt?
Es gibt Menschen, die eine hohe innere Verausgabungsbereitschaft haben, das hängt auch von der sozialen Gruppe ab. Wer karriereorientiert ist und aufsteigen will, neigt dazu. Aber auch in Betrieben mit hohem Druck, etwa in der Pflege, besteht die Gefahr, sich selbst zu sehr zu verausgaben, und damit steigt das Risiko, psychisch zu erkranken.
Immer mehr Menschen lassen sich arbeitsunfähig schreiben wegen seelischer Probleme. Ist der Ausstieg eine sinnvolle Entlastung?
Das kommt darauf an. Arbeit kann auch stabilisieren. Daher ist es nicht günstig, die Leute zu schnell arbeitsunfähig zu schreiben. Wer länger aus dem Arbeitsprozess herausfällt, verliert unter Umständen wichtige psychosoziale Kompetenzen. Und viele psychische Probleme resultieren aus der Arbeitslosigkeit. Bei uns in der Klinik in Rostock kommen 50 Prozent der erwachsenen Patienten nicht aus einer regulären Erwerbstätigkeit.
Wie sehen Sie die Zukunft der ambulanten Behandlungen?
Die Psychotherapeuten sollten sich mehr mit dem Hier- und-Jetzt der Patienten beschäftigen und sich stärker an deren psychosozialem Umfeld und Ressourcen orientieren. Frühe Entwicklungen in der Kindheit spielen zwar eine zentrale Rolle – und das sage ich als Psychoanalytiker – aber was später passiert an Belastungen im Alltag und wie die Leute damit umgehen, ist auch wichtig. Wenn ein depressiver Mensch sich immer weiter krank schreiben lassen will, muss man vielleicht fragen, ob er Angst davor hat, an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren und was der Grund dafür ist.
Outen sich die Patienten Ihrer Klinik beim Arbeitgeber?
Ein Großteil schon. Aber es gibt auch Patienten, die das nicht wollen. Dann steht auf der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur der Stempel „Universitätsklinik“ und nicht, dass es eine psychosomatische Klinik ist. Viele Patienten haben neben den psychischen Problemen auch körperliche Symptome wie Herz-Kreislaufprobleme oder chronische Schmerzen, dann geben diese das häufig bei ihren Vorgesetzten oder Kollegen als Leitsymptom an.
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