: Das Prinzip Pusteblume: Informationen, einmal in die Welt hinaus gesandt, verteilen sich frei und chaotisch
Niko Pfund besetzt die in der Verlagswelt immer seltener werdende Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Management. Der 42-Jährige hat bereits eine lange und erfolgreiche Karriere bei renommierten akademischen Verlagen hinter sich und ist aktuell Wissenschaftlicher Leiter bei Oxford University Press USA, einer der größten unabhängigen akademischen Verlage der Welt. Pfunds Spezialgebiet ist das Spannungsfeld zwischen Buch und Online: Anfang 2007 hatte OUP angekündigt, beinahe das komplette Verlagsangebot an Wissenschaftsbüchern im Volltext online zu stellen. Allerdings nicht für die Allgemeinheit: Das kostenpflichtige „Oxford Scholarship Online“-Programm OSO richtet sich bislang ausschließlich an Bibliotheken und ähnliche Institutionen.
Pfund warnt davor, die Online-Welt zu unterschätzen. Wer nach dem Dot.Com-Crash vor einigen Jahren den Internet-Freaks ein fröhliches “Ihr habt verloren!“ entgegenschmetterte, liege falsch, schrieb Pfund im Library Journal: „Wie jeder Bibliothekar weiß, hatten sie nicht verloren. Sie waren nur etwas zu früh dran.“ Steffen Grimberg
Die Urteile über neue Technologien fallen höchst unterschiedlich aus. Für die einen erhöhen sie die Produktivität, für die anderen die Ineffizienz, sie verringern oder vermehren die Arbeitsbelastung, sie befreien uns aus unseren Büros oder fesseln uns an unsere virtuellen Schreibtische. Sie gestatten uns pausenlose Kommunikation oder sie verletzen ständig unsere Privatsphäre, sie machen uns das Leben einfacher oder komplizierter.
Neue Technologien sind auch immer wieder Anlass endloser Debatten und Prophezeiungen. Vor allem das Spekulieren über die Zukunft der Zeitungen scheint nie ein Ende zu finden. Bei den ewigen Erörterungen dieses Themas dominiert häufig eine simplifizierende Schwarz-weiß-Logik, die aber nur die komplizierte Realität verdunkelt und eine sinnvolle Debatte erschwert.
Wer früher etwas publizierte, verfügte nur über eine Methode der Übermittlung von Informationen: Manuskripte, Bücher, auf Papier gedruckte Wörter. Heute dagegen gibt es ein verwirrendes Aufgebot verschiedenster Informationsquellen. Früher begnügten sich die publizistischen Lieferanten mit der Methode Gartenschlauch: Die Informationen flossen wie Wasser, das man durch eine direkte, in regelmäßigen Abständen auf- und zugedrehte Leitung in die jeweils gewünschte Richtung lenken konnte. Die heutigen Medien arbeiten nach einer Methode, die eher an die Ausbreitung von Pusteblumensamen bei starkem Wind erinnert: Die Informationen, einmal in die Welt hinaus gesandt, verteilen sich auf vollkommen freie und chaotische Weise.
In einer Medienlandschaft, die mittlerweile einem derart schnellen ständigen Wandel unterliegt, müssen sich die Konsumenten zunehmend auf ihr eigenes Urteil verlassen, um die Informationen anhand ihrer Quellen einzuschätzen und zu filtern, damit sie alle herumsegelnden Samen sinnvoll interpretieren können. Ein Artikel in der Bunten oder im Stern gilt als weniger seriös als ein Text in der Zeit oder im Spiegel. Ganz ähnlich haben Informationen von einer Onlineadresse, die autonom im Netz entstanden ist, eben nicht dasselbe Gewicht wie Informationen, die aus Printmedien ins Netz gewandert sind.
Der Normaltag eines normalen Redakteurs kann heute so aussehen, dass er im Netz zwischen ganz unterschiedlichen Seiten hin und her flippt: von CNN zu BBC zur New York Times zu Wikipedia zu YouTube zum Oxford English Dictionary zu Salon oder Slate oder Gawker und zu den verschiedensten speziellen Seiten. Dabei findet er häufig auf der einen Seite eine Geschichte, die er dann über eine andere verifizieren will, die als verlässlicher gilt oder die Informationen kompetenter und übersichtlicher zusammenfügt.
Laut Casper Grathwohl, der bei Oxford University Press für die Edition von Nachschlagewerken verantwortlich ist, operieren die Zeitungen heute in einem Klima, das durch eine abgestufte Skala von Autoritätsgraden gekennzeichnet ist. Deshalb sind die Zeitungen am besten beraten, wenn sie ihre überlegene Autorität instand halten, statt mit fixeren und weniger vertrauenswürdigen Quellen konkurrieren zu wollen. Es schmerzt mich, zu sehen, wie sich renommierte publizistische Organe im Bemühen, neuere Modelle zu imitieren, in einer Weise verbiegen, die ihre hart erarbeitete Autorität im Grunde unterminiert.
In den Personalabteilungen vieler US-Unternehmen macht ein Text die Runde, der eine wichtige Tatsache herausstellt: In der Arbeitswelt muss man sich heutzutage erstmals mit den unterschiedlichen Lebensstilen, Erwartungen und Bedürfnissen von vier unterschiedlichen Generationen auseinandersetzen. [1]Jede dieser Generationen benutzt Informationen auf eine andere Weise. Nehmen wir eine besonders ehrwürdige Institution: Die Halb-sieben-Abendnachrichten waren früher für jeden erwachsenen US-Bürger ein ehernes Ritual; heute hingegen pflegen dieses Ritual nur noch die Pensionäre. Denn um halb sieben sind nur ganz wenige Erwachsene schon zu Hause. Und wenn sie es sind, betreiben die meisten von ihnen Sport, spielen mit den Kindern, sitzen beim Abendessen - oder am häuslichen Arbeitsplatz. Das Format der Abendnachrichten ist mit dem Altern seines Publikums selbst gealtert. Deshalb liegt es an dem Format als solchem, dass die Abendnachrichten in der demografischen Falle sitzen. Und selbst neue Technologien wie TiVo oder DVR können die Sache nicht mehr retten, denn wer will schon eine vier oder sechs Stunden alte Nachrichtensendung sehen?
Aber alte Medien können sich modernisieren - und tun es auch allenthalben. Von TV-Shows kann man heute eine Auswahl von Online-Videoclips erstehen. Und die Websites von Zeitungen sind für Leser und Konsumenten unentbehrlich geworden, und das, obwohl die Zeitungen damit inzwischen ausreichend Geld machen wollen.
Wegen der Fixierung der Debatte auf den Gegensatz zwischen digitalen und Printmedien übersehen branchenfremde Beobachter häufig einen wichtigen Faktor, der die Misere der Zeitungen maßgeblich ausmacht - das Phänomen, das man Craigs List [2]nennt. Das Angebot, von Craig Newmark im August 2000 eingeführt, erwies sich sofort als „Zeitungskiller“. Wenn damals die New York Times oder die Washington Post oder die Frankfurter Allgemeine Zeitung etwas Vergleichbares gestartet hätten, wäre der Blutverlust, den die Online-Archivausgaben dieser Zeitungen hinnehmen mussten, wahrscheinlich weit milder ausgefallen. Solche rubrizierten Onlinearchive demonstrieren die Möglichkeiten der digitalen Revolution, die die Zeitungen viel wirksamer hätten ausnutzen können - und es immer noch könnten. [3]
Ein letzter Punkt: Selbst wenn man das Ritual des Lesens bedruckter Papierseiten liebt (wie ich es tue), lässt sich kaum bestreiten, dass das Format vieler Zeitungen ein logistischer Albtraum ist. Oder soll ein dünnes, flatterndes, überdimensioniertes Blatt Papier wirklich das beste Vehikel zur Nachrichtenübermittlung sein? Natürlich gibt es alle möglichen mechanischen und finanziellen Gründe, am gängigen Format festzuhalten, doch die unpraktische Größe der meisten Zeitungen trägt ebenfalls zu den Problemen der Branche bei. Nachdem ich mein halbes Leben damit verbracht habe, in der U-Bahn, am Strand oder im Auto mit Zeitungsblättern zu kämpfen, merkte ich neulich verblüfft, wie gerne ich den New York Observer lese, seit er im Tabloidformat erscheint. Denn jetzt hält man so etwas wie ein großes, schlaffes Buch in den Händen statt einer widerspenstigen Straßenkarte.
Ich bin der festen Überzeugung, dass viele Arten gedruckter Publikationen und insbesondere Zeitungen vor einem langen und langsamen, aber unaufhaltsamen Niedergang stehen, weil eben immer mehr Menschen ins Internet umsteigen. Die technologische Entwicklung filtert ineffiziente Dinge weg, und niemand kann leugnen, dass der Vertrieb von Druckerzeugnissen - egal ob in Form von Zeitungen, Zeitschriften oder Büchern - ein zutiefst ineffizientes Verfahren ist. Zudem stellen drei weitere Qualitäten des Internets für die Zeitungen eine Herausforderung dar: die Wabenqualität des kollektiven Hirns Internet, die von unbekannten Verfassern bereitgestellten Gratisinhalte und die reibungslose Verbreitung, die über das Netz möglich ist.
Aber auf die Gefahr hin, etwas Selbstverständliches auszusprechen, muss ich zum Schluss betonen: Entscheidend für eine gute Zeitung ist nicht ihre äußere Form, sondern sind ihr Geist und der Auftrag, den sie sich gegeben hat, wie auch die beharrliche Suche nach neuen Geschichten, nach interessanten und innovativen Perspektiven, ja, ich wage es zu sagen: nach der Wahrheit. Und nichts spricht dagegen, dass man all das nicht ebenso gut - und vielleicht sogar besser - auf dem Bildschirm statt auf Papier leisten kann. Niko Pfund
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