: Die Hose spannt am Po des Zoobesuchers
FOTOGRAFIE „Von Nilpferden und anderen Menschen“ – der Fotograf Friedrich Seidenstücker war ein Flaneur dort, wo das Bürgertum sich selbst ein Schauspiel gab. Sein Werk ist jetzt in der Berlinischen Galerie zu bewundern
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Legendär sind seine Pfützenspringerinnen. Kurze Röcke, kesse Hütchen, ein Täschchen unter dem Arm geklemmt oder auch eine Aktenmappe, hüpfen sie in großem Bogen über Bordsteinkanten, Kopfsteinpflaster und Pfützen eben. Professional girls, so sehen sie aus, etwas eilig auf dem Weg zur Arbeit, aber von einem Schwung getragen, als wäre der Sprung über die Pfütze zugleich einer in die Freiheit. Gleich acht dieser Motive aus den Jahren 1925 und 1930 kann die Berlinische Galerie in ihrer Ausstellung des Fotografen Friedrich Seidenstücker nebeneinander zeigen. Besitzt sie doch 7.000 seiner Abzüge, 1971 bei einem Trödler erworben, bei dem sich das Bildarchiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz noch einmal so viel Bilder sicherte. Aus beiden Beständen schöpft nun die Ausstellung.
Der Blick für das Skurrile, das leicht aus der Norm Gerutschte, das war es, was die Zeitschriften, die Seidenstückers Fotografien ab Ende der zwanziger Jahren erwarben, an ihm schätzten. In dem Magazin Uhu, das in Vitrinen ausliegt, wurden zum Beispiel gern ähnliche Posen von Mensch und Tier nebeneinandergesetzt. Seidenstücker fotografierte Popos von Menschen, die gerade mit etwas ganz anderem beschäftigt sind, als dem Fotografen Aufmerksamkeit zu geben. Da ist der Maler, der, auf einen Stuhl geklettert, uns den Hintern entgegenstreckt, weil er sich tief über seine gestapelten Bilder beugt. Da sind die nass glänzenden Badeanzugpopos junger Damen, die über den Beckenrand aus dem Wasser klettern. Da ist nicht zuletzt die gespannte Hose des fein gekleideten Zoobesuchers, der sich breitbeinig selbst zum Stativ macht, um die Raubtiere auf sein Negativ zu kriegen.
„Von Nilpferden und anderen Menschen“ heißt die Ausstellung. Seidenstücker hat im Zoologischen Garten nicht nur Tiere beobachtet, sondern auch die Besucher: Wie sie sich verrenken, um ihrerseits die Tiere zu fotografieren. Oft ist Seidenstücker mit seiner Kamera aber auch auf der Seite der Tiere und blickt aus ihrer Perspektive auf das Publikum. Er genießt offensichtlich die Beobachtung der Beobachter. Und er studiert auch die unterschiedlichen Milieus der Zoobesucher. Sein Bild davon, wie zwei Frauen mit einem Stativ ein kleines Mädchen „natürlich“ zu inszenieren versuchen, erzählt uns heute viel von einer bildungsbürgerlichen Kultur, die mit großer Freude die Lust am eigenen Bild entdeckte. Seidenstücker, der Flaneur, sah überall Fotografen: Damen im Pelzmantel lernten das Fotografieren im Charlottenburger Schlossgarten, von einer Parkbank aus zielt ein riesiges Teleobjektiv auf Spaziergängerinnen. Auch Voyeuristen sind unter den Bilderjägern.
1930 fotografierte Seidenstücker Reichswehrsoldaten, die als uniforme Masse vor dem Stachelschwein und den Elefanten stehen. Drei Jahre später zeigt er ein kleines Mädchen, das selbstvergessen am Straßenrand spielend eine Hakenkreuzfahne hinter ihrem Rücken hält. Seidenstücker, der emphatische Fotograf von populären Vergnügungen, von Menschenmassen in Biergärten und am Wannseestrand, scheint in der Zeit des Nationalsozialismus die Lust an den Bildern von Straßen und Plätzen verloren zu haben. So deutet Ulrich Domröse, der Kurator der Ausstellung, das Versiegen des Bilderstroms. Ein paar Aktbilder gibt es aus dieser Zeit, ein schwacher Abglanz der Leichtigkeit seiner Bilder aus den zwanziger Jahren. Beeindruckender hingegen sind die Bilder, als er gegen Kriegsende den zerstörten Zoo, die toten Elefanten, die Brache des abgeholzten Tiergartens fotografierte.
Bilder von Tieren und von jungen Frauen gehörten zu den ersten, die Seidenstücker 1928 an Zeitschriften verkaufen konnte. Er war damals schon 46 Jahre alt, als Bildhauer ein ewiger Student und erfolglos. Vermutlich waren seine Fotografien zunächst als Vorlagensammlung entstanden, bis er in diesem Medium seine eigentliche Stärke und Bildsprache entdeckte. Auch wenn er dann einige Jahre bescheiden vom Verkauf seiner Fotografien leben konnte, ein Fotojournalist ist er, wie Ulrich Domröse betont, nie geworden. Nicht nur, weil Tagesaktualitäten nicht interessierten, sondern mehr noch, weil er seinem eigenen beschaulichen Rhythmus folgte.
Ein seltsamer Spaziergang
Ausstellungen von Seidenstückers bekanntesten Motiven gab es in den 80er und 90er Jahren schon gelegentlich, im Jahr 2000 stellte das Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz über 90 seiner Bilder einer Onlinegalerie zur Verfügung. Aber für die jetzige Ausstellung wurden erstmals alle 15.000 Abzüge durchgesehen, weniger bekannte Motive wie Landschaften oder eine Reportage über Zigeuner ergänzen nun das Bild. Manchmal verändert Seidenstücker seine Handschrift, er arbeitet mit den Perspektiven des Neuen Sehens, konzentriert sich auf Strukturen – aber dies bleibt ein Nebenstrang.
1966 starb der Fotograf, seinen Nachlass, dem Zoologischen Garten und der Landesbildstelle angeboten, wollte niemand. In der Nachkriegszeit war er einmal zu einem sehr seltsamen Spaziergang aufgebrochen. Er begleitete 1947 einen Herrn und zwei Damen mit Zeichenmappen durch die Trümmer der Reichskanzlei. Sie blicken in Abgründe, sitzen auf umgestürzten Säulen und genießen schließlich auf einer Treppe im Schutt die Sonne.
■ Berlinische Galerie, Mi.–Mo. 10–18 Uhr, bis 6. Februar 2012. Katalog 34 Euro
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