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Die Spree ist sein Styx

DEBÜT Jochen Distelmeyer feiert die Premiere einer Premiere im Babylon Mitte: Er stellt seinen ersten Roman „Otis“ vor, spricht mit Moderator Thomas Böhm über den Flow und die Unterwelt und spielt auch ein paar Lieder

Distelmeyer. Stehend, den Blick klar gen Publikum gerichtet wie ein antiker Rhetoriker

VON JENS UTHOFF

Es soll, so wurde mir kürzlich zugetragen, nachgerade zur Chronistenpflicht geworden sein, darüber Bericht zu erstatten, welche Kleidung Jochen Distelmeyer denn trägt, wenn er vor’s Publikum tritt. Ehe nun diese elementaren Informationen durchrutschen, möchte ich das lieber im ersten Absatz erledigen und gebe zu Protokoll: der Protagonist trug eine schwarze Hose, dazu ein anthrazitfarbenes Jackett, ein karminroten Wollpullover darunter, aus dessen Ausschnitt ein weißer Hemdkragen hervorlugt; kastanienbraune Schuhe dazu.

Bevor und während diese eleganten Herrenschuhe am Dienstgabend die Bühne des Babylon Mitte betreten, gibt es laute Musik aus den Boxen, überraschende Musik aus den Boxen: Distelmeyer läutet den Abend mit einem Song der Teenieband One Direction – „Where do open hearts go“ – aus der Konserve ein. Synthies und Autoscootersound, Discomucke, dann: Stille. Dann: Distelmeyer. Stehend, den Blick klar gen Publikum gerichtet, eben wie ein antiker Rhetoriker. Er trägt die ersten drei Seiten seines Romans „Otis“ frei vor.

Es ist die Premiere von der Premiere. Distelmeyer, Blumfeld-Sänger und prägende Gestalt wie Miterfinder des deutschsprachigen Diskurspop der vergangenen gut 20 Jahre, hat seinen ersten Roman geschrieben. An diesem Dienstagabend stellt er „Otis“ live vor und spielt ein paar Lieder. Der Literaturkritiker und Moderator Thomas Böhm unterhält sich zwischen den Lesepassagen mit dem Autor über das Making-of-Otis. Und auch wenn man den Roman, der im Sich-durch-Berlin-treiben-lassen an Homers Odyssee angelehnt ist, schon gelesen hatte beziehungsweise schon sehr viel darüber gelesen hatte, kann man nach der Live-Performance und dem Gespräch vielleicht schon wieder einen etwas anderen Blick auf den Text haben.

Gut 100 Seiten seines Erstlings habe er auswendig gekonnt, sagt Distelmeyer, „verfasst habe ich es im Sprechen und im Gehen“, das liege ihm nun mal nahe. Gehend erlebt man meist auch den Protagonisten seines Werks, Tristan Funke, der aus Hamburg nach Berlin gezogen war, um eine Liebe zu vergessen. Dieser Funke schreibt an einem Roman, treibt sich in der Berliner Kulturszene herum und – tja, was eigentlich – konstatiert, was sich in der Berliner Republik in den vergangenen fünf, zehn fünfzehn Jahren zugetragen hat.

Es wurde viel und zum Teil auch zu Recht genörgelt über diesen Roman, über seine Sprache, seine Dialoge, seine schräge Komposition; wenn Distelmeyer aber Spoken Word vorträgt, fällt auf, dass einige Passagen – etwa der Dialog mit der an Hans Barlach angelehnten Figur (im Roman Jürgen Zaller) oder auch die Partyszenerie zum Ende des Romans – ja doch auch gut funktionieren und Furor entwickeln. „Ich komme vom Flow“, sagt Distelmeyer über das Schreiben am Roman, er sei mit diesem Flow mitgegangen, und damit erklären sich wohl auch die misslungenen wie die gelungenen Passagen des Romans. Der überbordende Wortwitz etwa, auch das wird an diesem Abend deutlich, ermüdet auf Dauer. „Es soll Spaß machen“, es solle ein Unterhaltungsroman sein, erklärt Distelmeyer; und weiter: Er schreibe nicht vom Ressentiment aus, sondern er wolle den Reichtum – der Welt, des Seins – abbilden. Distelmeyer bekommt einige Lacher im fast ausverkauften Kinosaal, das Klatschen aber bleibt eher verhalten. Das Publikum ist recht gemischt – etwas Kulturschickeria, etwas Literaturbetrieb, viele Distelmeyer-Fans, wenige Freaks.

Böhm und Distelmeyer sprechen noch über die Odysseus-Saga und über Unterwelten, über den „Niemand“ Otis (Odysseus gibt sich im Kampf mit dem Zyklopen Polyphem das Pseudonym ‚Outis‘, also ‚niemand‘). Distelmeyer erzählt von der Spree, die in dem Roman ein bisschen wie der Styx in der Mythologie sei, über den friedlich-freundlichen Ton, der ihm wichtig gewesen sei.

Weitaus mehr bei sich aber ist Distelmeyer, als er die Gitarre in die Hand nimmt und Coverversionen spielt, darunter „Toxic“ von Britney Spears in Americana-Version oder auch „This old road“ von Kris Kristofferson. Man möchte unbedingt ein wenig mehr davon – und man kriegt auch ein wenig mehr davon, zwei Zugaben spielt der Schriftsteller gewordene Sänger.

Der Abend endet dann für viele Besucher wie er begann: mit Schlange stehen. Nur während anfangs ein Getränk das Begehr war, ist es nun eine Widmung Distelmeyers, die sich doch eine Reihe von Menschen in ihren „Otis“ pinseln lassen wollen.

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