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Bei der Stasi lernte er das Schreiben

DOKUMENTARFILM „Vaterlandsverräter“ porträtiert den Schriftsteller und ehemaligen Stasispitzel Paul Gratzik

Paul Gratzik sitzt am Fenster in seinem alten Haus in der Uckermark und sagt über sich als Schriftsteller: „Ich schaue hinüber in den Wald, und da kommt das Wort heraus, das ich suche.“ Als er seine Tochter Antje besucht, sagt er über sich als Vater: „Sie hat es nicht leicht gehabt mit mir. Ein Scheißvater eben.“ Über sich als Stasimitarbeiter aber will er nicht reden. Vehement wehrt er sich dagegen – und redet schließlich doch. Aus den Erzählungen und Erinnerungen dieses eigenwilligen Mannes ist nun ein vielschichtiger Film entstanden.

Paul Gratzik, heute Mitte 70, tritt 1962 der Stasi bei. Zur gleichen Zeit beginnt er zu schreiben. Seine Werke („Malwa“, „Transportpaule“, „Kohlenkutte“) sind erfolgreich, sie werden an der Berliner Volksbühne aufgeführt, er hat dort Freunde, Kollegen, Liebhaberinnen, die ihm vermitteln, etwas Besonderes zu sein. Ebendiese Menschen bespitzelt er, fast 20 Jahre lang. Bei Kaffee und Kuchen liest er die Berichte seinem Führungsoffizier vor. „Das Schreiben habe ich bei der Stasi gelernt,“ sagt er heute.

Annekatrin Hendel, Autorin, Regisseurin und Produzentin von „Vaterlandsverräter“, kennt Gratzik seit über 20 Jahren. Mit ihren sensiblen, aber hartnäckigen Fragen bringt sie ihn zum Erzählen. Sie stapft durch den Schnee über das Feld, um ihn zu besuchen. Sie begleitet ihn zur Augenoperation. Sie nimmt ihn mit zu Orten seiner Vergangenheit, nach Berlin an die Volksbühne, nach Dresden. Er wirkt fehl am Platz in einem großen, durchdesignten Hotel. Sichtlich fühlt er sich unwohl in dieser Welt, die so wenig mit seiner Utopie von einer sozialistischen Gesellschaft zu tun hat.

1980 quittiert er seinen Dienst bei der Staatssicherheit und gerät danach selbst in deren Visier. 30 Jahre später nimmt er widerwillig Berichte zur Hand, die er damals verfasst hat, liest vor, was er über seinen Freund, die Theatergröße Heiner Müller, geschrieben hat. Nichts Besonderes steht in dem Bericht. Meistens steht nichts Besonderes in Gratziks Berichten. Sie sind bisweilen sehr schlecht formuliert.

Vor laufender Kamera

Spannend ist das Geflecht von Freundschaften und Beziehungen, das dahintersteckt. Dieses zeichnet Hendel nach, besucht Gratziks ehemalige Liebhaberin Renate Biskup, den früheren Führungsoffizier und Theaterfreunde und lässt sie erzählen. Sie stellt ihnen Fragen über Paul Gratzik, den Täter, Paul Gratzik, den gut aussehenden Charismatiker, Paul Gratzik, den Menschen.

So entsteht das vielschichtige Bild eines ehemaligen Stasispitzels, das es unmöglich macht, Gratzik als bloßen Täter zu verurteilen, und doch die Konsequenzen seiner Spitzeltätigkeit hervorhebt. Als Renate Biskup vor laufender Kamera erfährt, dass Gratzik ein Stasimitarbeiter war und in ihrem Wohnzimmer Berichte verfasst hat, geht eine lieb gewonnene Erinnerung in Stücke; sie weicht enttäuschter Wut. Genau diese auch ästhetisch gelungene Mischung aus der Melancholie der Vergangenheit und den harten Tatsachen ist es, die „Vaterlandsverräter“ eine besondere, berührende Kraft verleiht.

CARLA BAUM

■ „Vaterlandsverräter“. Regie: Annekatrin Hendel. Dokumentarfilm, Deutschland 2011, 102 Min.

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