OFF-KINO: Filme aus dem Archiv – frisch gesichtet
Dem eher beschaulich wirkenden Kino der Vätergeneration setzte eine junge Garde von britischen Regisseuren Mitte der 1950er Jahre das sogenannte „Free Cinema“ entgegen: Nicht zuletzt an der Tradition des sozial engagierten englischen Dokumentarfilms der 1930er geschult, gingen Leute wie Lindsay Anderson, John Schlesinger, Karel Reisz und Tony Richardson mit ihren Handkameras hinaus auf die Straße, um sich in ihren Filmen den Problemen einfacher Menschen aus der Arbeiterklasse zu widmen. Natürlich verlangte der neue Stil auch nach neuen Gesichtern, die vor allem echt wirken sollten. So wie jenes von Rita Tushingham, die als 19-Jährige ihr Schauspieldebüt in Tony Richardsons „A Taste of Honey“ (1961) gab. Keine große Schönheit, aber ungeheuer lebendig: Neugierig und schwungvoll verkörpert sie das naive Mädchen Jo, das mit seiner überforderten Mutter in ärmlichsten Verhältnissen lebt. Die Liebe, die sie daheim nicht findet, sucht Jo in einer Affäre mit einem schwarzen Matrosen. Doch sie bleibt schwanger und allein zurück und zieht schließlich mit einem obdachlosen homosexuellen Modezeichner zusammen. Probleme gibt es also genug, doch der Film ist frei von Larmoyanz. Vielmehr schwingt in Jos trotzigen Emanzipationsversuchen von der gedankenlosen Mutter ein bitterer Humor mit. Eine kleine Reihe mit Filmen von Tony Richardson zeigt das Lichtblick-Kino in der kommenden Woche.
Alle abendfüllenden Spielfilme von Jacques Tati, also auch sein in einem schwedischen Zirkus entstandenes und selten gespieltes letztes vollendetes Werk „Parade“ (1973), gibt es hingegen im Babylon Mitte zu sehen. So kann man kontinuierlich verfolgen, wie der französische Regisseur sein Dauerthema von der Verlorenheit des Menschen in der „kalten“ und seelenlos durchorganisierten modernen Welt ausarbeitete und immer wieder komödiantisch variierte: Vom Briefträger François, der in „Tatis Schützenfest“ (1949) mit seinen „amerikanischen“ Methoden der Briefzustellung in der französischen Provinz baden geht, bis zu M. Hulot, der in Filmen wie „Mein Onkel“ (1958) und „Trafic“ (1971) mit linkischem Charme und unfreiwilliger Anarchie der Absurdität der vermeintlichen Effizienz modernen Lebens auf die Spur kommt, ist der Weg nicht weit. Tatis wohl schönste Filme sind „Die Ferien des M. Hulot“ (1953), in dem er die Gäste eines Badeortes allein deshalb nervt, weil er tatsächlich Urlaub macht, und „Playtime“ (1967), seine große Vision von den Irrläufen in einem imaginären und hypermodernen Paris. Da werden die Gags mit der Zeit immer beiläufiger und die Komik immer beklemmender.
Einen Klassiker des schwedischen Stummfilms schuf Benjamin Christensen mit „Hexen“ (1922), einer faszinierenden Mischung aus Dokumentation und spekulativem Horror, die sich mit dem Hexenwahn des Mittelalters beschäftigt. Hier bleibt nichts ungezeigt: Die Hexen verarbeiten nämlich auch gern einmal ungeborene Babys in ihren Zaubertränken, und die Inquisition ist schließlich auch nicht ganz ohne. LARS PENNING
„A Taste of Honey – Bitterer Honig“ (OF) 15.–17. 10. im Lichtblick
„Tatis Schützenfest“ 13./16./17. 10.; „Die Ferien des M. Hulot“ 12./15./17. 10.; „Mein Onkel“ 14.–17. 10.; „Playtime“ 12./14./16. 10.; „Trafic“ 13./15. 10.; „Parade“ 13. 10. im Babylon Mitte
„Hexen“ (OF) 17. 10. im Kino in der Brotfabrik
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