: berliner szenen Atemtheorien
Besuch in der Küche
Uli ist seit einer Woche zu Gast. Sie ist schon seit sechs auf, trinkt Getreidekaffee, isst Magerjogurt und redet über ihre Sportgruppe. „Das würde dir auch mal gut tun. Gehst du raus heute?“, fragt sie. Ich schüttle den Kopf, will schnell meinen schwarzen Kaffee an ihr vorbei aus der Küche tragen. Aber Uli spricht schon über ihre Essen-nach-Farben-Theorie und über die Wichtigkeit der Frage, ob man Ein- oder Ausatmer ist. Das lasse sich am Geburtsdatum und anderen Faktoren bestimmen. Ich schlafe auf dem Bauch, laufe mit dem rechten Fuß zuerst los und anderes, was Uli zum Schluss bringt: „Ganz klar, du bist Einatmer!“ Das bedeute, dass ich zwar Nudeln essen darf, aber keine Kartoffeln, Fisch, aber kein Fleisch, und so weiter.
Nun warte ich schon seit Tagen darauf, dass sie mal weggeht um die Mittagszeit, damit ich mir ohne schlechtes Gewissen Kartoffelbrei oder Frikadellen machen kann. „Was ist denn nun, wenn ein Einatmer mit einem Ausatmer zusammen ist? Die können ja nie gemeinsam kochen?“, frage ich sie, und sie hält kurz inne. „Naja, es gibt ja auch noch die Fragezeichen-Typen, die dürfen eigentlich alles es- sen. Wann ist M. eigentlich geboren?“ Uli hat M. noch nie getroffen.
Später bei M. beobachte ich seine Füße: er läuft mit dem linken Fuß zuerst los. Er schläft auf dem Rücken, so gut kennen wir uns schon, und sein Geburtsdatum liegt eindeutig im kritischen Bereich. „Wenn du vorhast, etwas Schweres hochzuheben, atmest du dann vorher ein oder aus?“, frage ich. M. übergeht die Frage, nimmt mich in den Arm und es beginnt der längste und schönste Kuss, den die Welt je gesehen hat. Ich nehme mir vor, morgen eine Fleisch- und Kartoffelorgie zu veranstalten. Uli hin oder her.
ANNE KÖHLER
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen