: McDonald’s ist ein richtig guter Ort
FAMILIE Antonia Baums neuer Roman trägt den längsten Titel des Jahres und ist voller Sehnsucht nach Normalität
VON ANGELA LEINEN
Romy, Clint und Jonny haben keine Mutter. Und ob sie einen Vater haben, wissen sie manchmal auch nicht. Obwohl sie ihre tote Mutter „Mama“ nennen, heißt Theodor immer nur Theodor. Er ist Arzt, Künstler, Krimineller, Anarchist und Autoschrauber, aber kein Vater, wie ihn Kinder sich wünschen: Das Haus, in dem die Familie lebt, ist ein einziges Chaos, und als das Jugendamt sich einschaltet, macht Romy, aus deren Sicht die Geschichte erzählt ist, sich erst einmal Sorgen, wie Theodor wohl ohne sie zurecht käme, wenn sie ins Heim müssten.
„Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren“, heißt der zweite Roman von Antonia Baum, der Titel ist ein abgewandelter Rap-Titel von M.O.R. Ich-Erzählerin Romy erzählt von früher, als sie und Zwillingsbruder Clint neun Jahre alt waren, und von ihrem 25. Geburtstag, an dem die Geschwister wieder im Haus zusammenkommen.
Ein etwas altkluges Kind
Schreiben aus der Kinderperspektive ist immer heikel: Niemand, der bei Trost ist, möchte einen ganzen Roman in der Sprache einer Neunjährigen lesen. Die Erzählperspektive muss etwas weitsichtiger, etwas erwachsener sein als das Kind. Erzählerin Romy ist ein weises und etwas altkluges Kind, das ein bisschen geschwollen redet – kein Wunder, wächst sie doch mit einem Vater auf, der sich einer gepflegten Ausdrucksweise bedient, wenn er nicht gerade flucht. Theodor spricht mit seinen Kindern in Sätzen wie: „Hattet ihr ein Rencontre?“
Antonia Baum bekommt das gut hin, die Sprache ist nie anbiedernd, oft originell, kindlich, ohne die Erzählerin bloßzustellen. Antonia Baum erzählt das in gleichmäßigem Wechsel zwischen Rückblende und der Schilderung der Geschehnisse am Geburtstag. Es passiert sehr viel in diesem Roman, unrealistisch viel, aber das macht nichts: Als Leser sollte man sich nicht darüber beklagen, dass zu viel passiert, so oft kommt das schließlich nicht vor. Und die Figuren sind so plastisch und überzeugend geschildert, dass sie einige Abenteuer überstehen können.
Romy, die Ich-Erzählerin, ist so eine Figur, die der Leserin, dem Leser sofort ans Herz wächst, so stachelig und abgebrüht auf der einen Seite, auf der anderen so einsam und bedürftig. Romy ist – wie alle Kinder – konservativ, ohne es sein zu dürfen. Die Familie ist schließlich anders aus (Theodors) Überzeugung. Die neunjährige Romy findet, dass „McDonalds’s ein richtig guter Ort“ ist, gibt aber vor den Mitschülern damit an, dass „unser Vater einen Bankräuber“ kennt. Es schmerzt, dass sie und ihre Brüder für asozial gehalten werden: „Aber wir sind keine Flodders, unser Vater ist Arzt, klar? Wir haben mehr Geld, als eure Scheißväter in einem verschissenen Jahr verdienen, und wir diskutieren zu Hause die blaue Phase von Picasso, während eure Scheißeltern überhaupt nicht wissen, wer Scheißpicasso war!“
Romy wünscht sich eine Mutter und hasst die, die eine haben. Immer wieder tauchen Mutterfiguren im Leben der Kinder auf: Für kurze vier Wochen ist das Züleyha, die Frau eines Geschäftspartners, die Romy ein Kleid kauft und ihr die Haare kämmt. Dann kommt Sultan, der anständige Kriminelle, der ein fast normales Familienleben installiert: „Seit Sultan da war, aßen wir gemeinsam zu Abend und nicht wie sonst auf dem Sofa und jeder für sich.“
Plötzlich gibt es normale Regeln. Für Theodor gelten normale Regeln nicht, der findet es in Ordnung, wenn die Kinder klauen, solange sie sich nicht erwischen lassen. Nur besser nicht gerade dann, wenn sowieso schon das Jugendamt vor der Tür steht. Sultan sieht das anders: „Es ist immer der falsche Zeitpunkt für Babys, einen Supermarkt zu überfallen.“
Auf Sultan folgt die bodenständige Rita, die nie eine Hans-Meiser-Sendung verpasst, normale Dinge kocht und ein Mathe-Genie ist. Diese kurzen glücklichen Zeiten enden stets in Katastrophen. Alle zuverlässigen Erwachsenen verschwinden wieder aus dem Leben der Kinder und lassen sie mit ihrem unzuverlässigen Vater zurück.
Was der eigentlich ist, erfahren die Kinder nicht. Ist er wirklich Arzt? Warum liegt das Haus voller Autoteile und wieso versucht ein Arzt in Berlin ein Wettbüro zu eröffnen? Wo ist Theodor, wenn er verreist ist? Warum hat er nur ein Auge? Und vor allem: Was ist mit der Mutter passiert? Ist sie wirklich bei der Geburt von Clint und Romy gestorben? Für alle Fragen der Kinder gibt es Erklärungen, die nie so ganz überzeugend sind.
Jura-Doktor auf Ritalin
Antonia Baum erzählt eine wilde, bunte Geschichte, ein Familien-Epos voller Räuberpistolen, eine Geschichte von der Sehnsucht nach Normalität im großen Abenteuer. Als sie sich, gerade erwachsen, wiedersehen, sind die Rollen der Geschwister festgelegt: Romy studiert Psychologie, wurschtelt sich durch, und wenn sie sich dafür vom Vater Geld leihen muss. Jonny, der Älteste, der so gut malen kann, wird „auf Speed und Ritalin Jura-Doktor“, weil er Geld verdienen will und „etwas braucht, worauf er sich verlassen kann“. Clint ist immer noch „dieses gepanzerte kleine Kind“, viel zu oft auf Koks.
Das wäre alles kaum auszuhalten, bliebe nicht bei aller Tragik und Verwahrlosung immer noch ein Hauch von Hoffnung: der Zusammenhalt, die Liebe und die Klugheit der Geschwister, die Menschen, denen sie auf ihrem Weg begegnen, und ein Vater, der im letzten Moment doch noch auftaucht. Ohne das wäre es kaum zu ertragen. So ist das ein toller Roman über das, was Kinder brauchen, und darüber, dass Familie auch ein libanesischer Krimineller sein kann.
■ Antonia Baum: „Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren“.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2015, 400 Seiten, 22 Euro
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