Riten und Reize

Zu Weihnachten wird nicht nur Christi Geburt zelebriert. Im Vordergrund steht die familiäre Üppigkeit

INTERVIEW NATALIE TENBERG

Am Telefon erzählt Alois Hahn, Soziologe und Professor an der Universität Trier, von seiner Vorliebe für Meeresfrüchte. Unbewusst habe er den Habitus der reichen Leute nachgeahmt, bis das Verhalten irgendwann in den Usus überging. Deswegen gibt es bei ihm, der 1986 an der École des Hautes Etudes en Sciences Sociales auf Einladung von Pierre Bourdieu lehrte, zu Weihnachten nicht nur Gans, sondern auch Austern. In seinem Aufsatz „Das Glück des Gourmets“ von 2004 betrachtet er die Welt der Gastronomieführer, Kochbücher und Restaurantkritiken unter dem Gesichtspunkt ihrer Sinnstiftung.

taz.mag: Herr Hahn, lassen Sie uns über das Weihnachtsessen sprechen. Was sagen Sie zum kargen Mahl zum Heiligen Abend, wie es die Kartoffelsalatfraktion zelebriert?

Alois Hahn: Früher waren die großen Feiertage der Versuch, auch was die Menge anbetrifft, ordentlich etwas zu essen. Heute ist man gegen Ende der Feiertage erschlagen von all dem vielen guten Essen und Trinken. Bei uns kriegen viele dieser älteren Konzepte vom kargen Mahl mit Kartoffelsalat und Würstchen zu Heiligabend dadurch wieder Aufschwung, dass wir, wenn wir essen, gleichsam das schlechte Gewissen dabei haben, wegen der vielen Kalorien.

An Weihnachten setzt, wie sonst nur zu Karneval, die Selbstdiziplinierung mitunter völlig aus.

Sicher. Das soll ja einerseits ein Fest der Üppigkeit sein, aber im Gegensatz zu Karneval ist Weihnachten ein Fest der familiären Üppigkeit. Aus dieser Konzentration auf die Familie ergeben sich auch Probleme. Die Familien sind natürlich nicht immer so harmonisch, wie man es Weihnachten eigentlich sein sollte. Und die Leute, die nun zwangsweise zum Weihnachtsglück abkommandiert wurden, die ertragen das nicht nur wegen des zu vielen Essen und Trinkens häufig nicht, sondern auch weil sie sozial überfrachtet werden. Auf sie stürzt zu viel Kontext auf einmal ein.

Hat der neuerliche Tanz um das Weihnachtsessen den Platz der festen Größe des feiertäglichen Kirchgangs eingenommen?

Ich würde schon sagen, dass das Essen eine kultische Dimension bekommt. Doch beim Gottesdienst ist der Ritus schon vorgegeben, und es herrscht eine zelebrierte Feierlichkeit. Die Liturgie gibt dem Ganzen eine Form, die ihm zu geben die Leute allein nicht in der Lage wären.

Feuern die vielen Beilagen zum Weihnachtsessen in den Zeitungen das kultische Element des Ritus „Essen“ an?

Das kann gut sein. Die Riten nehmen einem zu einem gewissen Maße Reflexion ab. Riten entlasten und legen Abläufe fest, ohne dass man sie sich selbstständig ausdenken muss. Das ist an Weihnachten gerade dann nützlich, wenn man die ganze Zeil zusammen ist und erst einmal nichts zu tun hat, ausgenommen vielleicht derjenige, der kocht. Aber ansonsten sitzen sich da eine Menge von Leuten den ganzen Tag gegenseitig auf dem Pelz. Da ist dann mit einem langen Essen die Zeit in einem gewissen Maße schon festgelegt, der Zeitablauf geplant. Man muss nicht selbstständig etwas erfinden. Dadurch, dass man essen kann, muss man auch nicht ständig reden. Man kann natürlich auch beim Essen reden, aber man kann sich selbstverständlich auch dem Essen widmen. Oder kann über das Essen reden.

Gibt es dabei Regeln, die zu beachten wären?

Es gibt erst mal keine wirkliche Beschränkung von Themen. Bei Tisch kann jedes Thema aufgegriffen werden. Die zentrale Regel ist freilich bei solchen Familientreffen, dass kein Thema aufgegriffen wird, das zu Konflikten führt. Und da, wo das doch passiert, versucht man das Thema zu wechseln oder die Sache dann irgendwie doch harmonisch ausklingen zu lassen. Und wenn es dann doch zu Konflikten kommt, dann ist das bei Tischgesprächen ein misslungener Ritus.

Das ist also die Messe, bei der der Wein sauer ist.

Genau das ist es. Alle Riten, alle Feierlichkeiten sind in hohem Maße störanfällig. Dass man sich streitet, kommt ja immer wieder vor. Aber man darf bei der Beerdigung nicht lachen und am Weihnachtsfest nicht streiten. Der Harmoniezwang ist so stark, dass sich leicht Störungen ergeben.

Können Sie anhand der bevorzugten Speisen schon Milieuunterschiede feststellen?

Untersuchungen im Kontext von Essen und Milieu gibt es ja vor allem im Zusammenhang mit Pierre Bourdieu, der „Die feinen Unterschiede“ geschrieben hat. Es wird deutlich, dass Unterschichten mit Essen ganz stark verbinden, dass es nahrhaft und viel sein soll. Natürlich soll es bei feineren Angelegenheiten besonders sein, aber immer unter den Aspekt des Nahrhaften, des quantitativ Üppigen.

Und wenn man sich nun selbst signalisieren möchte „Ich bin aufgestiegen“?

Dann versucht man, das nachzuahmen, was die feineren Leute machen. Doch ist beim Essen die Möglichkeit, andere Leute nachzuahmen, sehr begrenzt. Was schmeckt und was nicht schmeckt, das unterliegt nur in Grenzen der eigenen Freiheit. Wenn einer nun furchtbar gerne fette Klöße isst, dann kann er sich das zwar mühsam abgewöhnen, aber die Versuchung wird immer bleiben. Und wenn ihm Austern nicht schmecken, obwohl er das mit Feineleutekultur verbindet, dann hilft das nicht.

Und wenn man diesen Wunsch nach Aufstieg nur heimlich hegt, weil er einem als nicht lauter erscheint?

Dann gibt es ja den guten Ausweg, nur noch Bio zu essen. Man kann am Biosiegel leicht erkennen, dass die Sachen teurer sind. Es ist also ein Distinktionsmerkmal der guten Leute. Mit dem hohen Preis verbindet sich der Gedanke der Selbstdisziplin. Und man leistet sich dann auch etwas, was sich das „Proletariat“ nicht leisten kann, aber man hat trotzdem ein gutes Gewissen. Ich würde aber vermuten, dass diese Biobewegung eine sehr bürgerliche Haltung ist. Ein Punkt scheint mir noch wichtig zu sein, der die Distinktion betrifft. In vielen Fällen ist die Distinktion auch davon abhängig, dass man Kennerschaft zeigt. Kennerschaft kann einerseits ein reines Wissen sein. Diese Kennerschaft läuft über die Kenntnis der Namen und Etiketten und der Preise. Die andere Kennerschaft ist aber schwieriger zu erwerben. Zum einen gehört bloß intellektuelles Wissen. Die andere Kennerschaft ist schwieriger zu erwerben, zu ihr gehört neben dem intellektuellen Wissen eine gleichsam in den Körper eingeschriebene Kenntnis, die dann zur Distinktion führt.

Zu Weihnachten tun die Menschen ja auch gerne so, als seien sie die großen Weinkenner.

Ich war ein Jahr lang mit einer Gruppe Wissenschaftlern aus aller Welt zusammen. Viele taten so, als seien sie große Weinkenner. Aber wenn man die Kollegen dann länger kennt und genau hinschaut, offenbart sich bei manchen doch eine große Unkenntnis. Die reden dann im schönsten Ton, als wüssten sie über Weine genau Bescheid. Hier gilt wieder das gleiche Prinzip der Distinktion. Hier kann jeder die Idee haben, dass ein Wein für hundert Euro besser ist als einer für zehn und dass einer für dreihundert Euro auch noch mal besser ist als einer für hundert Euro. Und nebenbei suggeriert man den Leuten, dass man das Geld dafür hat. Natürlich sagt man dann nicht „Ich bin so reich, ich kann mir das leisten“, das würde sich ja nicht gehören. Nein, man tut so, als sei dies der einzige Wein, den man trinken könne, und darunter schmecke einem nichts richtig. Und vor allem sagt man nicht: „Ich bin ein reicher Mann, deswegen trinke ich teure Weine“, sondern man sagt: „Ich bin ein feiner Weinkenner, deshalb leiste ich mir diesen Wein, aber ich würde diesen feinen Wein natürlich auch trinken, wenn er nur zehn Euro kosten würde.“ Und genau das stimmt nicht.

Wie sieht es denn mit Gerichten wie Raclette und Fondue aus? Die sind ja gerade zu Weihnachten sehr populär. Wie würden Sie das denn einordnen?

Im Grunde ist das die Idee, dass niemand kochen muss. Es ist das Gleiche wie das Grillen im Sommer. Niemand muss in der Küche stehen und sich abmühen. Man kann die Soßen kaufen oder jeden Gast bitten, eine Soße mitzubringen, man kann das koordinieren. So hat man das Gefühl, man hat eine Art von Tischgemeinschaft. Und es herrscht eine Art von Gemütlichkeit. Unter gastronomischen Gesichtspunkten ist das natürlich nicht diskutabel.

Wie sieht es aus, wenn man sich das Weihnachtsmenü bestellt?

Das entspricht der gleichen Idee. Man braucht gar nicht zu arbeiten. Man ist nur noch verantwortlich für die Wahl des Restaurants. Die ältere Idee war ja, dass man nicht nur gut isst, sondern dass das Kochen der festspezifischen Speisen in den familialen Ablauf zu Weihnachten gehört.

Was sollte man beim Weihnachtsessen unbedingt vermeiden?

Man sollte nichts machen, was man nicht hinbekommt. Man sollte nichts machen, was zum Streit führt. Oder was dazu führt, dass das, was eigentlich der Freude dient, Anlass zu Ärger wird. Wenn man gerne kocht, sollte man auch an Weihnachten das kochen, was man gerne kocht, egal was das ist. Das Essen soll ja den Leuten schmecken, man soll da kein Imponiergehabe an den Tag legen. Und man sollte so mit dem Essen umgehen, dass es einem hinterher nicht leidtut. Generell würde ich sagen, man sollte sich nicht kasteien, also nur in der Küche stehen, gar nicht am Fest teilnehmen. Man sollte auch nicht, nur weil man imponieren möchte, Sachen machen, die eigentlich viel zu teuer sind. So eine Prahlerei setzt ja auch die anderen unter Druck. Man sagt zwar, wer angibt, der hat mehr vom Leben. Aber dann haben die anderen weniger vom Leben. Das heißt auch, dass man die Verhältnisse, in denen man lebt, berücksichtigt. Man sollte niemanden beschämen, indem man ihm zeigt, was man sich selber leisten kann und was er sich nicht leisten kann.

Geschenke. Vor oder nach dem Essen auspacken?

Das ist schwierig. Man weiß ja nicht, wie lange das mit dem Auspacken dauert, man weiß aber, wie lange das mit dem Essen dauert. Außerdem steigert das Auspacken nach dem Essen die Spannung, vor allem da, wo die Geschenke mit Überraschung verbunden sind. Da hat man während des Essens noch den Genuss des Wissens, dass da noch etwas kommt.

NATALIE TENBERG, Jahrgang 1976, ist taz-Gastrokritikerin. An Heiligabend wird sie Truthahn essen