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Jede Minute zählt

AUTO Beim Carsharing tut sich was: Immer mehr„Free Floating“-Anbieter tummeln sich auf dem Markt. Sie locken mit dem Auto für zwischendurch – und lassen sich diesen Service gut bezahlen

VON CLAUDIUS PRÖSSER (TEXT) UND KARSTEN THIELKER (FOTOS)

Verdammt! Von Tegel bis zum Lützowplatz lief’s doch wie am Schnürchen. Jetzt fehlt bis zur Winterfeldtstraße nur noch ein läppischer Kilometer, aber auf einmal stockt der Verkehr. Was wollen die alle hier? Ist schon Rushhour? Gab’s einen Unfall? Die Minuten verrinnen. Jetzt! Dumme Ampel. Schnell weiter.

Es ist kein Termin, der den Fahrer unter Druck setzt – es sind die Kosten. Das Auto, das er steuert, gehört einem Carsharing-Anbieter mit denkbar einfachem Tarifmodell: keine Grundgebühr, keine Gebühr für die gefahrenen Kilometer, auch keine Extrakosten, wenn ausnahmsweise getankt werden muss. Bezahlt wird minutenweise. Jede einzelne Minute Fahrt kostet 29 Cent – ob man nun über die Stadtautobahn saust oder im Rückstau einer Kreuzung versauert. Der Vorteil: Man leiht sich das Auto, wo man will – und lässt es stehen, wo man will. Alles säuberlich organisiert per Smartphone-App.

Drei Carsharing-Anbieter lassen sich inzwischen in Berlin dieses „Free Floating“-Prinzip nach Minuten bezahlen. Hinter allen stehen große Player: DriveNow ist ein Joint Venture von BMW und Autovermieter Sixt, es hat 1er-BMWs und Minis im Angebot. Konkurrent car2go, eine Kooperation von Daimler AG und Europcar, hält mit vielen kleinen Smarts dagegen. Und Multicity verleiht Fahrzeuge aus dem Hause Citroën.

Die Zielgruppe ist klar umrissen: junge, mobile Menschen, digital sozialisiert und flexibel, aber ohne Bedarf nach einem Statussymbol in der Garage. Bei diesen Leuten verfängt die Message der Wettbewerber am ehesten: Brauchen Sie schnell ein Auto? Dann nehmen Sie doch einfach eins!

Klappt alles einwandfrei

Der Praxistest zeigt: Das kann prima funktionieren. Für jemanden, der sonst mit dem öffentlichen Nahverkehr oder auf dem Fahrrad unterwegs ist, ergibt sich eine neue Mobilitätsoption. Es macht sogar Spaß, sich im winzigen Smart durch den Verkehr zu schlängeln und nonchalant noch die kleinste Parklücke zu erobern. Oder antriebsstark mit dem 1er-BMW unterwegs zu sein. Noch besser: mit dem flüsterleisen C-Zero-Elektromobil von Multicity, in dem man wie im Autoscooter dahinsurrt – nur viel komfortabler.

Alle Anbieter legen Wert auf gute Ausstattung. Ein Navigationssystem ist selbstverständlich. Und wenn mal etwas nicht auf Anhieb klappt, funktioniert die Kontaktaufnahme mit dem Kundencenter einwandfrei. Die Apps, über die man bei allen Anbietern operiert, weisen zuverlässig zum nächstgelegenen Standort und außer im Fall von Multicity dienen sie auch als Autoschlüssel: Einmal auf dem eigenen Telefon „Fahrzeug ausleihen“ angetippt, und nach Sekunden öffnet sich die Türverriegelung mit sanftem Ploppen.

Der Pferdefuß ist das Preismodell, die Minutenabrechnung. Dabei kommt es ganz auf die Ausleihsituation an: Wer zu später Stunde durch die leere Stadt düst, zahlt nur einen Bruchteil etwaiger Taxigebühren, und für alle ohne ÖPNV-Zeitkarte kann auch eine – kürzere – Fahrt im Carsharing-Auto günstiger, schneller und komfortabler sein.

Dieses Privileg verkehrt sich prompt ins Gegenteil, wenn es auf den Straßen voll wird. Dann kann es passieren, dass ein paar hundert Meter teurer sind als ein AB-Ticket. Und auch wenn die Unternehmen die Parkgebühren pauschal übernehmen – im Fall der Fälle machen sich eben auch die Bezahlparkplätze rar.

So etwas stresst. Natürlich kann man das potenzielle Kostenspektrum ganz nüchtern kalkulieren und dann überlegen, ob der durchschnittliche Preis einer Fahrt attraktiv genug ist. Aber auch das ändert nichts an der Tatsache, dass jede konkrete Engstelle im Berliner Verkehr bares Geld kostet.

Der einzige Free-Floating-Anbieter, der nach einem alternativen Prinzip abrechnet, ist das kleine, noch sehr junge Berliner Unternehmen Spotcar, das mit 100 Fahrzeugen eine ziemlich überschaubare Opel-Adam-Flotte betreibt: Hier zahlt man pro zurückgelegten Kilometer. Bei den veranschlagten Preisen erscheint das erst einmal als die teurere Variante, aber unter realen Bedingungen zahlt sie sich oft aus. Vor allem ist sie planbar und somit nervenschonend.

Knausern mit den Zahlen

Mittlerweile sind die To-go-Autos fast allgegenwärtig. Insgesamt 2.500 Fahrzeuge stehen in Berlin herum. Dabei wirft das neue Geschäftsmodell immer noch Fragen auf. Zunächst einmal die nach der Wirtschaftlichkeit: Rechnet sich das überhaupt? Tatsächlich sind die Anbieter knauserig mit Nutzungszahlen. Von car2go, das Mitte 2012 auf den Markt stieß und mit rund 1.200 Smarts die größte Flotte unterhält, heißt es auf Anfrage, man habe „in kürzester Zeit ein vollkommen neues und attraktives Geschäftsmodell entwickelt“ und erwarte, „mit diesem neuen Geschäftsmodell auch am Markt wirtschaftlich erfolgreich zu sein und entsprechend Geld zu verdienen“.

Das klingt, nun ja, etwas vage. „Natürlich ist jede Fahrt in einem car2go gleichzeitig eine Testfahrt in einem Smart“, teilt das Unternehmen weiter mit. Auch Marketing ist also im Spiel. Was prinzipiell nichts Schlimmes ist – aber damit sich ein neues Mobilitätsangebot langfristig etabliert, muss es sich rentieren. Was hat der Neukunde davon, wenn das Angebot – weil unrentabel – in absehbarer Zeit wieder eingestellt wird?

Auch beim Verkehrsclub Deutschland (VCD), der in erster Linie auf Alternativen zum privaten Pkw setzt, pflegt man eine gewisse Skepsis gegenüber dem Free-Floating. Tino Kotte, Geschäftsstellenleiter des VCD Nordost, hat da eine Vermutung: Die EU, so viel ist Fakt, verpflichtet alle Autokonzerne dazu, den durchschnittlichen CO2-Ausstoß ihrer Gesamtflotte zu senken. Aus diesem Grund, so Kotte, könnten die beteiligten Kfz-Hersteller ein Interesse haben, über das Carsharing Fahrzeuge mit Niedrig- oder Nullemissionen in die Statistik zu drücken.

Dazu müssten zwar die meisten aktuellen Fahrzeuge erst durch Elektroautos ersetzt werden, aber das kann ja noch geschehen. Die Ladeinfrastruktur in der Stadt wird jedenfalls in nächster Zeit stark ausgebaut. Gerade erst hat der Energiekonzern Alliander dafür vom Land den Zuschlag erhalten.

Verlockender als Fahrrad

Die Skepsis beim VCD reicht aber noch weiter: „Grundsätzlich freuen wir uns über Carsharing“, so Kotte, aber der Verdacht sei noch nicht vom Tisch, dass die neuen Angebote das klassische stationsbasierte Carsharing kannibalisieren könnten. Und beeinträchtigt das schnelle Auto für zwischendurch nicht ein umweltbewusstes Mobilitätsverhalten? „Wenn man einen 1er-BMW vor der Haustür stehen hat, ist das möglicherweise verlockender, als aufs Fahrrad oder in den Bus zu steigen“, so Kotte. Valide Zahlen zum Nutzungsverhalten gebe es allerdings noch nicht.

Aus demselben Grund hält man sich auch beim Bundesverband Carsharing (BCS) mit einem abschließenden Urteil zurück. Das Bundesumweltministerium und die Stadt München hätten Studien in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse man abwarten wolle, sagt BCS-Referent Gunnar Nehrke: „Wir warten gespannt, welche Entlastungsleistung die beim Free Floating ergeben.“ Im klassischen Carsharing ersetze ein Pkw bis zu zehn private Autos, daran müsse sich das neue Modell messen lassen.

Dass die Free-Floating-Angebote dem stationsbasierten Carsharing die Kundschaft abspenstig machen könnten, erwartet Nehrke eher nicht: „Wir gehen davon aus, dass sich beide Angebote sinnvoll ergänzen können.“ Das eine stehe für Planbarkeit, das andere für Spontaneität.

Im Übrigen hat auch das klassische Carsharing immer noch große Beschränkungen. Zwar ist das Geschäftsgebiet einiger Free-Floater besonders eng umrissen (bei Spotcar beschränkt es sich im Prinzip auf den S-Bahn-Ring), aber auch im Fall stationsbasierter Anbieter wie Flinkster, Greenwheels, Stadtmobil oder CiteeCar wird die Luft sehr dünn, wenn man sich von der Innenstadt entfernt. Ein Auto teilen in Zehlendorf, Biesdorf oder Wittenau? Absolute Fehlanzeige.

Und auch zur Ehrenrettung des privaten Pkw wäre etwas zu sagen: Bei der Kostenrechnung der unterschiedlichen Carsharing-Modelle zählt mal die verbrauchte Zeit, mal die zurückgelegte Strecke, mal beides. Aber nur das eigene Auto, das man im besten Fall mit Freunden oder Nachbarn teilt, belohnt einen spritsparenden Fahrstil.

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