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Überreste der Berliner Mauer

Läßt sich Vergangenheit bewältigen? Das Beispiel des Schriftstellers Ota Filip zeigt, daß man in Tschechien mit Geheimdienstverstrickungen einen anderen Umgang pflegt als die hierzulande bevorzugte bürokratische Gauck-Variante. Ein persönlicher Bericht  ■ von Lenka Procházková

Der erste Beitrag dieser Art war vielleicht das „Dokument“ des Tschechoslowakischen Fernsehens, das im Jahre 1970 unter dem Titel „Zeugnis von der Seine“ ausgestrahlt wurde. Der Hauptakteur darin war mein Vater, der Schriftsteller Jan Procházka bzw. seine Stimme, die der Staatssicherheitsdienst (StB) beim Abhören von Václav Cernys Wohnung mitgeschnitten hatte. Die vorgetragenen Sätze klangen authentisch, und nur ein Fachmann hätte kleine technische Mängel dieser zweckgebundenen Montage erkennen können. Das aus dem Archiv entnommene Bildmaterial zeigte Jan Procházka durch eine Flugzeughalle schreiten (in Wirklichkeit war es eine Halle aus den Filmateliers Prag-Barrandov). In der nächsten Aufnahme startete irgendein Flugzeug, dann sah man Paris und einen Mercedes mit dem Hinterkopf eines Chauffeurs. Die ständig anwesende Monologstimme meines Vaters verknüpfte diese spotartigen Sentenzen miteinander und rief den Eindruck von Echtheit hervor.

Wir litten diese Sendung im engen familiären Zusammenhalt durch, ich war damals neunzehn, meine Schwester siebzehn, mein Vater und meine Mutter waren vierzig Jahre alt. Es war ein entsetzlicher Abend im Labyrinth des Grauens, denn die Stimmen, die gleich nach dem Abspann im Telefon erklangen, gehörten nicht nur fremden Menschen, sondern leider auch einigen Freunden meines Vaters. Mit der entrüsteten Enttäuschung der Kleingläubigen wurde auch ich in den nächsten Tagen beworfen; vergeblich versuchte ich, meinen Mitschülern zu erklären, daß es Betrug war.

Mein Vater schrieb damals einen offenen Brief an den Staatspräsidenten, den Innenminister, den Fernsehdirektor, und einige Kollegen Schriftsteller richteten eine Beschwerde an die Generalstaatsanwaltschaft. Keiner der Mächtigen antwortete darauf, denn die ausgestrahlte Sendung war im staatlichen Interesse gedreht worden und sollte ein Medienvorspiel zu einem vorbereiteten politischen Prozeß werden. Bevor es jedoch zur ersten Verhaftungswelle kam, erkrankte mein Vater, und ein Jahr später starb er. Bei seiner Beerdigung, die trotz aller Intrigen in Prag stattfand, fotografierte der Staatssicherheitsdienst alle Menschen, die zum Abschied kamen. Diejenigen, deren Gesichter identifiziert werden konnten, wurden zu Verhören geladen, die auch aus Angeboten einer „Mitarbeit“ bestanden.

Als mich im Januar 1998 auf einer Berliner Tagung über „Wahrheit und Demokratie“ die Moderatorin fragte, was mich zur Unterzeichnung der Charta 77 veranlaßt hatte, erinnerte ich mich an diese alten und so schmerzhaften Erlebnisse und antwortete, daß dank solcher Erfahrungen mit der totalitären Macht meine Entscheidung einfach und selbstverständlich war. Als die Tagung zu Ende war, klappte ich den Koffer zu, und gemeinsam mit Petr Uhl und seiner Frau Anna setzte ich mich ins Auto ihrer Freundin, die mir vor der Abreise eine Fahrt durch die Stadt versprochen hatte. Ich war zum erstenmal hier und wollte gern den Rest der einstigen Mauer sehen.

Unterwegs fuhren wir in der Redaktion der Berliner Tageszeitung taz vorbei. Der Redakteur Christian hatte jedoch keine Zeit. Er mußte noch einen Kommentar zum Medienfall unseres Kollegen Ota Filip für seine Zeitung schreiben. Er zeigte uns die Abzüge des am nächsten Tag erscheinenden Spiegel mit dem Gespräch, in dem Ota Filip die Umstände seiner Unterschrift erläuterte, mit der er sich im Gefängnis Pilsen-Bory dem Teufel verschrieben hatte. Christian fragte uns nach unserer Meinung. Niemand von uns Tschechen hatte jedoch den Film, der (unter technischer Mitarbeit des Tschechischen Fernsehens) vom Bayerischen Fernsehen produziert und bereits ausgestrahlt worden war, gesehen. Wir wußten nur, daß sein Autor (selber ein Mann mit einer wenig beispielhaften Vergangenheit) in seinem Beitrag auch Geheimunterlagen vom militärischen Abschirmdienst sowie Archivdokumente des tschechischen Innenministeriums verwendet hatte, was meinen instinktiven Widerstand zu diesem Typus „Dokumentarfilm“ zu Tage förderte.

Während Petr Uhl mildernde Umstände darin sah, daß Filips Unterschrift im Knast gewonnen worden war (obwohl Petr selbst als politischer Gefangener insgesamt neun Jahre seines Lebens „hinter Gittern“ verbracht hatte, ohne außer Paketempfang je irgend etwas unterschrieben zu haben), dachte ich darüber nach, daß ich in Tschechien viele Menschen kenne, die sich an Ota Filip stören; keiner von ihnen würde jedoch sein Unbehagen über dieses so komplizierte menschliche Wesen auf eine so niedrige Art zum Ausdruck bringen. Anderes Land, andere Sitten? Und warum hatte man das alles erst jetzt vorgeholt? Hatte man das nicht früher klauen können?

Für eine kurze Fahrt durch Berlin blieb uns gerade eine Stunde übrig. Bevor wir nun zur Mauer gelangten, war eine Kolonne gepanzerter Polizeiautos an uns vorbeigefahren. Am Tag zuvor wurde das Stadtzentrum von einer mächtigen Welle studentischer Demonstrationen überrollt. Wieviel Wahrheit verträgt die Demokratie? „Hier hast du sie nun“, bremste die Fahrerin. Ich schaute aus dem Fenster hinaus. Die Mauer war wahrhaftig nur noch ein Torso, ein Stück buntbemalten, aus Beton bestehenden Zauns. Ich spürte gar nichts, nicht einmal den Wunsch auszusteigen und ihn zu berühren. Ich hätte früher hierher kommen sollen.

Nur damals, als Ota Filip und ich im Jahre 1984 schriftlich (das bedeutet aber nicht auf dem Postweg) Absprachen trafen, wo wir uns zum erstenmal treffen könnten, hatte er kein Visum für Ost- Berlin. Und mir verweigerte man wiederum jedes Visum in ein westliches Land. Schließlich einigten wir uns auf das „neutrale“ Budapest, aber bevor wir uns treffen konnten, wurde mein Reisepaß einkassiert. Kurz zuvor war nämlich meine Schwester mit ihrer Familie emigriert, und beim illegalen Überschreiten der jugoslawisch- österreichischen Grenze war ihnen Ota Filip maßgeblich behilflich gewesen. Von seiner zweifellos guten Tat plauderte er jedoch im Rausch der Begeisterung unverzüglich in mein angezapftes Telefon.

Zum erstenmal sah ich ihn also erst im Dezember 1989, als er auf meine Einladung hin zur Gründungsversammlung der Schriftstellergemeinschaft nach Prag kam. Einige Wochen später bekam ich meinen Reisepaß zurück, und Ota Filip moderierte dann charmant meine Lesung in München. Obwohl wir uns seitdem wieder häufig sahen, pflegten wir die bewährte Art unserer Korrespondenz weiter. Einige Jahre später wurde sie aber jäh abgebrochen, als Ota Filip meine Aktivität wegen des erhobenen Rückgabeanspruchs der katholischen Kirche auf den Veitsdom fanatisch erregt öffentlich verurteilte. Damals begriff ich, daß mein Freund ein sehr unglücklicher Mensch ist. Seine wunderbaren Bücher blieben selbstverständlich weiter in dem am meisten frequentierten Regal meiner Bibliothek stehen, in dem mittleren, offenen Fach, wohin ich vom Schreibtisch aus, ohne aufstehen zu müssen, mühelos greifen kann.

Einmal sagte er mir, daß ein Schriftsteller nicht danach beurteilt werden solle, wie er gelebt, sondern danach, was er geschrieben hat. Obwohl ich denke, daß die Schicksale bedeutender europäischer Autoren unseres Jahrhunderts nicht von ihrem Werk zu trennen sind, befand er sich offensichtlich langfristig in einer Situation, in der das Schreiben von Geschichten für ihn ein Asyl darstellte. Ich bin froh darüber, daß er sich das Selbstschutz-Nest zu halten vermochte und sich zumindest darin sicher fühlte.

Man kann Menschen, unter allen übrigen Gesichtspunkten, in erpreßbare und nicht erpreßbare aufteilen. Im Jahre 1977 wurde ein StB-Mann bei einem der zahlreichen, intensiv geführten Verhören mit Ludvik Vaculik abgewiesen, als er diesem einen Satz intimer Fotos vorlegte, die man bei einer Hausdurchsuchung gefunden hatte, und für ihre Rückgabe ein Lösegeld in Form der Ausreise von achtundvierzig Stunden oder einen öffentlichen Widerruf seiner Unterzeichnung der Charta 77 forderte. Danach wurden diese Aufnahmen in einer Zeitschrift abgedruckt und eine Reihe davon vom Tschechoslowakischen Fernsehen in einer zur zuschauerfreundlichsten Sendezeit ausgestrahlten „Dokumentarsendung“ verwendet, so daß das ganze Volk mit eigenen, ungläubig aufgerissenen Augen etwas sehen konnte, was nur für zwei Menschen bestimmt war.

Die Staatsmacht, krank vor Wut und Rachsucht, unterschätzte jedoch die Tatsache, daß die Öffentlichkeit außer Augen und Ohren auch eigenen Verstand und Gefühlssinn besitzt und selbst nach sieben Jahren im Rahmen der sogenannten „Normalisierung“ der durch das Medien-Sprachrohr praktizierten Volksverdummung immer noch in der Lage war, die Sittenlosigkeit der staatlichen Fernsehanstalt und vor allem die der Auftraggeber dieser Sendung zu erkennen. Vielleicht nur ein naiver und ein sehr unkritischer Zuschauer konnte sich (möglicherweise) darüber entrüsten, was die Fotos beinhalteten, während dem Normalbürger unbedingt der Schrecken darüber im Nacken saß, wovon er Zeuge wurde.

Vaculiks damaliger Standpunkt zu den Erpressern wird bis heute (aus Schamgefühl gegenüber seiner Person und seinen Nächsten) nicht ausreichend gewürdigt. Im Zusammenhang mit dem Thema dieser Überlegungen muß man jedoch unbedingt erwähnen, daß er damals tausendmal lieber in den Knast gegangen wäre, als sich auf dem Bildschirm präsentieren zu lassen. Der Staatssicherheit war natürlich sehr wohl bekannt, welche Harpune ihn tiefer hätte treffen können.

Kein Zweck kann jedoch jemals gut sein, wenn Mittel verwendet werden, die den Charakter des Menschen brechen. Die daraus resultierenden Taten eines solchen Unglücksmenschen zu beurteilen steht nur und auschließlich dem eventuellen Opfer dieser Taten zu, also dem Opfer des Opfers. Ganz bestimmt steht es nicht einem Fernsehstab zu, der die Unterlagen auf einem unehrlichen und möglicherweise ungesetzlichen Wege aus dem Archiv der Erpresser gewonnen hat. Wie viele menschliche Tragödien gestriger Tage werden in diesen muffigen Kellerräumen noch verborgen gehalten, und wie viele Menschen, irgendeiner mächtigen Interessengruppe unbequem, können morgen wieder erpreßt werden?

Die Begriffe Moral und Ethik sind nicht identisch. Moral ist ein gesellschaftlicher Usus der jeweiligen Epoche, während Ethik sich auf ein höheres und die Zeitdimension übersteigendes Prinzip bezieht. Jede Art Jagd auf einen Menschen ist unsittlich, auch wenn ihr Opfer ein Mensch ist, über dessen Moral man vielleicht im Zweifel sein kann.

Pavel Filip, den Mathematikprofessor, kannte ich nur aus den Briefen seines Vaters. Ota Filips Bemerkungen über seinen Sohn waren mit Liebe, einem gewissen Stolz (“dieser Junge ist wohlgeraten“) und einer Prise Nostalgie über das eigene, beginnende Altwerden geschrieben. Persönlich sah ich Pavel Filip nur einmal, bei einem gemeinsamen Mittagessen in einem Restaurant. Er saß neben einem wunderschönen Mädchen, schenkte uns anderen nicht viel Aufmerksamkeit, er wirkte ruhig und glücklich. Ich glaube, daß er ein scheuer Mensch war, dem es unangenehm war, viel Aufhebens von sich zu machen. Seine tragische Entscheidung zeugt von einem großen Schmerz und einer großen Ohnmacht. Ich glaube, daß diese Art von Strafe für einen Vater absolut ist.

Wir kennen nicht alle Umstände, aber auch der Widerhall dieser Tragödie sollte uns warnen und uns aus unserer Trägheit, Gleichgültigkeit oder nur Müdigkeit, die unser heutiges Chaos notgedrungen hervorruft, wachrütteln. Der Mensch Ota Filip ist nun für immer in das Zeitlose der Hoffnungslosigkeit verbannt. Wenn ein menschliches Wesen auf dieser Welt keine Vergebung erreichen kann, bedeutet das ein wichtiges Memento auch für uns, die nicht Nahestehenden. Das Schicksal oder, sagen wir mal, Gott, zeigt uns an dieser Tragödie auf, daß wir unentwegt nicht nur unsere Taten, sondern auch unsere Gedanken und Verurteilungen prüfen müssen. Daß wir uns nicht von einer zweckbezogenen „Wahrheit“ einer Macht oder einer Gemeinschaft überzeugen lassen dürfen.

Ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, daß der Selbstmord von Pavel Filip ebenfalls für unsere Zukunft als der Große Tod zu sehen ist, und daß wir nicht so kleinlich und beschränkt sein dürfen, ihn als Polizeibericht, als ein trauriges Ereignis, das eine fremde Familie heimsucht, abzutun. Wir sollten auch lernen, eine Mitarbeit, sei es nur eine „technische“, mit Halunken auszuschlagen, die über Moral nur predigen.

Zuerst in der tschechischen Tageszeitung „Právo“ veröffentlicht

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