: Sanlitun – Pekings Quartier Latin
Auf Sanlitun ist kaum ein Lokal älter als zwölf Monate. Einrichtung und Besitzer sind zumeist unkonventionell. Hier kann man westliche Freunde ausführen und auch jenseits luxuriöser Hotelpforten sehr gut leben. Und hier kann man sich bei etlichen Tassen Capuccino die Nacht um die Ohren hauen. Ein Rundgang durch das neue Künstler- und Intellektuellenviertel in der Hauptstadt Chinas ■ Von Georg Blume (Text) und Rong Rong (Fotos)
Jeden Morgen, wenn die Dämmerung einsetzt und die Nachtcafés ihre Rolläden herunterlassen, beginnt in der Sanlitunstraße im Nordosten Pekings der Alltag. Straßenkehrer mit Besen und Schubkarren ziehen die Trottoirs entlang, Gemüsehändler stapeln Berge frischer Melonen und Pfirsiche am Straßenrand, alte Frauen und Männer im Unterhemd und kurzen Hosen verlassen ihre Wohnblocks, um unter den Alleebäumen vor der Haustür zum gemeinsamen Frühsport anzutreten, gefolgt von Müttern, die ihre Kinder vor der Arbeit zur Schule bringen.
Normalität in Sanlitun. Wo nach dem Krieg nur Stadtrand war, Bauarbeiter Lehmgruben aushoben und die 6. Maschinenfabrik Werkbänke produzierte, gehen nun abends die Lichterketten an. Aus den niedrigen Gebäuden, die früher als Läden und Lager dienten, schallt Stimmengewirr und westliche Musik. Unter den Akazien am Straßenrand laden Cafétische die Passanten ein. Mehrere Dutzend Staßencafés, Jazzkneipen, Teesalons und Salsabars säumen die Sanlitun und eine kleine Seitengasse vor dem Arbeiterstadion. Hier hat sich klammheilich die bislang heimatlose Pekinger Intelligenzia und Künstlerszene eingerichtet.
Auf Sanlitun ist kaum ein Lokal älter als zwölf Monate. Fast jedes hat eine ungewöhnliche Einrichtung, einen außergewöhnlichen Besitzer. „Unser Viertel ist wie das Quartier Latin von Paris, als sich dort noch Sartre und Camus trafen. Hierher kommen weder Geschäftsleute noch Neureiche. Unser Publikum sind die jungen Intellektuellen, die Discos und Karaoke nicht ausstehen können und zu uns kommen, um eine Nacht lang zu diskutieren“, charakterisiert die Innenausstatterin Boriana Song, 39, das Quartier.
Song, eine Künstlerin chinesisch-bulgarischer Abstammung, dekorierte im vergangenen Jahr ein Teehaus an der Sanlitun im alten chinesischen Stil. Doch die Rückbesinnung auf die Tradition kam beim Publikum nicht an. Inzwischen ist aus dem Teehaus eine Disco geworden, in der billiger Rotwein mit Limonade, Eiswürfeln und gerösteten Sonnenblumenkernen serviert werden. Auch das ist ein Merkmal von Sanlitun: Jeden Tag scheint hier eine neue Bar zu öffnen und eine andere zu schließen.
Henry Lee, der im aktuellen Versace- Outfit den Gigolo mimt, gehört zu den Veteranen der Straße. „Öffentlicher Raum“ hat der 36jährige Shanghaier sein Barcafé genannt und sich dabei auf das altgriechische Konzept vom öffentlichen Raum als Ort der freien Aussprache besonnen.
Henry ist der Sohn eines renommierten Wirtschaftsprofessors der Partei. 1985 wanderte Henry nach Australien aus; in Sydney brachte er es zum Vizemanager des luxuriösen „Hyatt“-Hotels, bis er sich nach Peking berufen fühlte. „Peking ist eine Herausforderung, weil man verändern kann, was die Menschen am Abend tun“, erläutert der einzige ausgebildete Gastronom auf der Sanlitun. „Ich erziehe mein Publikum westlich: von der philosophischen Grundidee bis zur Kunst, die ich ausstelle, und dem Essen, das ich serviere.“
Im „Öffentlichen Raum“ ist nichts dem Zufall überlassen: blaue chinesische Designermöbel, japanische Collagekunst, Hanfplakate und Versace-Poster. Das lockt Frauen wie Zhou Bin, 39, und Jenny Yamasaki, 35, die früher für Chinas Zentralballett in Peking tanzten und heute ihren Welttourneen nachträumen. Zhou und Jenny lieben es, mit ihrem Freund Henry bis zwei Uhr nachts Capuccino zu trinken. „Wir sind zu alt zum Tanzen. Aber er macht uns das Überleben unter chinesischen Bedingungen leicht“, loben beide.
Zu den regelmäßigen Kunden im „Öffentlichen Raum“ gehört auch der Rockmusiker Zang Tian Shuo. Der 34jährige fährt einen metallblauen Jeep Cherokee und trägt im Sommer Turnhose und Turnschuhe. Bei Henry steht seine Privatflasche schottischer Whiskey, Marke Glenfiddich, im Regal. „Als Rockmusiker brauche ich Kontakte zu normalen Bürgern. Das war und ist in China sehr schwierig. Rockmusik hörte man bisher nur zu Hause. Ihr fehlte ein öffentliches Publikum“, begründet der wuchtige Musiker seine nächtlichen Gelage.
Im Jahr 1983 gründete Zang die erste chinesische Rockband, heute ist er ein Superstar der – in Fernsehen und Rundfunk immer noch verbotenen – Rockmusik. Rauh, unbändig, aggressiv singt Zang seine Lieder, die er abends in den Kneipen auf Sanlitun komponiert. Zuletzt schrieb er so die Musik zum neuen Film des chinesischen Starregisseurs Zhang Yimou (“Das rote Kornfeld“). Zwei Dinge tue er im Leben gerne, sagt Zhang: alle seine Lieder, Platten und Konzerte in Eigenregie zu betreuen und abends ins Lokal zu gehen. Auf Sanlitun vor allem.
Im Sommer vorigen Jahres öffnete nicht weit entfernt das „Jam House“. Dessen gewiefte Managerin bestellte für die am Gebäude fälligen Wandmalereien keine Künstler, sondern den deutschen Kindergarten von Peking – keine zweite Kneipe erscheint jetzt so unverdächtig bunt nach außen. Ein bißchen Tarnung kann nicht schaden: Im „Jam House“ gibt die neue, blutjunge Musikszene wilde Konzerte, die so manchen Politkader verstört zurücklassen würden.
Schräg gegenüber vom „Jam-House“, im Barrestaurant „Versteckter Baum“, das seine Pforte unter einer Pappel versteckt, trifft sich die vom Westen gefeierte moderne Pekinger Kunstszene: Maler, Fotografen und Filmleute zieht es dort zu der 31jährigen Belgierin Katrien Costenoble. „Ich wollte einen Ort schaffen, der ein bißchen ehrlicher und ernsthafter ist als all die ekelhaften Hotels und Hofbräuhäuser westlichen Stils.“ Dafür fand Katrien einen geeigneten Joint-venture-Partner: Der Drehbuchautor Li Ji schrieb zuletzt das Skript für den in Europa preisgekrönten, in China verbotenen Film „Der Sohn“ des Nachwuchsregisseurs Zhang Yuan. Nun achtet Li nebenberuflich darauf, daß im „Versteckten Baum“ das Publikum erscheint, das seiner anspruchsvollen Partnerin gefällt.
Der dreißigjährige Rong Rong, dessen Kunstfotografien auf diesen Seiten abgebildet sind, hat bei Katrien und Li regelmäßig Diashows veranstaltet. Der schmächtige Mann mit langem dünnem Haar kam vor Jahren mittellos aus der Provinz nach Peking, schloß sich einigen unabhängigen Künstlern an und arbeitete sich zum gefragten Performancefotografen hoch. Erst vor kurzem wurden seine Bilder in Berlin und Wien ausgestellt.
Rong ist dafür den Gastwirten des „Versteckten Baumes“ dankbar: „Mit ihrem Lokal habe ich einen Ort gefunden, in den ich Ausländer einladen kann und mich trotzdem zu Hause fühle.“ Früher hätten sich chinesische Künstler mit Ausländern in deren teuren Hotels verabreden müssen. Jeder Besuch habe einer Fürstenaudienz geähnelt. „Ich komme nicht zum Zeitvertreib auf die Sanlitun“, sagt Rong. „Mir geht es darum, mit Freunden und Kollegen über wichtige Fragen zu reden. Für mich ist Sanlitun ein symbolischer Ort für eine andere Kultur.“
Man ist selbstbewußt, jedoch nicht auftrumpfend in diesem Viertel. Denkfreiheit lautet die Devise, politische Debatten bestimmen die Abende: Erfahrungen von der Kulturrevolution bis zur Studentenrevolte kommen hoch – wer wann wo mit wem den Lehrer verjagt hat und später an der Uni demonstrieren ging. Trotzdem dominieren Gegenwartsthemen: Chinas neue Weltmachtrolle, sein Verhältnis zu Japan und den USA. „Wir Chinesen sind bescheiden“, sagt der Maler Yi Ling, der sich im „Versteckten Baum“ zu Rong Rong gesetzt hat. „Wir haben Hegel und Marx übersetzt, während ihr in Europa Lao-tse immer noch nicht gelesen habt.“
Yi, 36, dessen Vollbart und kahlgeschorener Kopf dem Idealtyp des chinesischen Weisen entsprechen, ist mehr als eine Lokalgröße. Er gewann vor kurzem den Ausschreibewettbewerb des neuen internationalen Flughafens von Maastricht, wo nun riesige Wandgemälde für asiatische Kunst werben. Doch aufregender sind die Werke Yis, die bis vor kurzem im „Versteckten Baum“ zu sehen waren. Farbige monotone Ölgemälde, in deren wilder Pinselführung sich zahlreiche chinesische Schriftzeichen verbergen: Yi weist auf ein hellblaues Labyrinth und zieht mit dem Finger nach: „Reichtum, Reichtum, Reichtum“ steht dort zu lesen.
Damit spielt der Maler auf ein heikles Thema an. Denn verlangt nicht auch das Nachtleben von Sanlitun nach immer mehr Geld und Reichtum? „Na und? Eine Tasse Kaffee und der halbe Liter Peking-Bier kosten hier 15 Yuan“, entgegnet Yi. Knapp drei Mark also. Doch wer hat außer ihm schon Bilder nach Europa verkauft? Gekommen sind sie an diesem Abend alle, um den Geburtstag eines wohlhabenden Freundes aus der Sonderverwaltungszone Shenzen zu feiern. „So ist es immer“, meint Rong, der Fotograf. „Wer gerade zu etwas gekommen ist, lädt die anderen ein. Oder es bleibt bei einem Getränk pro Abend.“
Wie lange noch, bis Künstler und Musiker auf der Sanlitun durch den Massenbetrieb wieder in ihr isoliertes Privatleben zurückgedrängt werden? Schon gilt das Viertel als Touristenattraktion. Hier haben drei chinesische Jungunternehmer, die das große Geschäft suchen, ein Terrassenrestaurant mit eigener Bierbrauerei errichten lassen. Dort öffnet ein neues Fastfood-Lokal. An manchen Tagen entsteht der Eindruck, als seien auf Sanlitun nur Ausländer willkommen.
Die Pekinger Szene hat nichts dagegen: Denn Touristen bieten Schutz vor den Behörden. Wäre die Sanlitunstraße erst einmal eine Attraktion wie das Quartier Latin in Paris, würden sich die Stadtmächtigen nicht trauen, die langen Pekinger Sommernächte zu stören. Tatsächlich ist von den Polizeirazzien, die noch vor Jahren alltäglich waren, heute keine Rede mehr.
Das kommunistsche Straßenkomitee, das bis vor kurzem noch im ständigen Streit mit den Gastwirten lag, hat jetzt ein grünes Schild neben den Propagandatafeln aufstellen lassen: „Sanlitun Bar Street“ – liest sich der offizielle Weihe- und damit Schutztitel der bunten Intellektuellenmeile.
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