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Gescheiterter Schweizverbesserer

Der Journalist und Schriftsteller Niklaus Meienberg war einer der ersten, der die selbstgerechte Darstellung der Schweizer Geschichte als nationale Lebenslüge darstellte. Eine Biographie über ein Leben als permanenter Kampf gegen Mythen und Eliten   ■  Von Rudolf Walther

Als gut 20jähriger Student notierte er ins Tagebuch: „Die Gletscherspalte zwischen mir und dem, der ich sein sollte, wird immer tiefer.“ Er begriff sich als „immerfort drehende Denkmaschine“ im Leerlauf. Fast dreißig Jahre später beginnen quälende Monate, in denen er seinen Freitod minutiös organisiert: „Ich fühle mich alt, kaputt und habe keine Hoffnung irgendeiner Art ... Ich bin auch nicht mehr lernfähig.“ Der Schriftsteller und Journalist Niklaus Meienberg (1940 – 1993), der zeitlebens zwischen „sumpfigen Depressionen“ und „Aufschwüngen“ hin und her gerissen wurde, litt schwer darunter, „keine mittlere Linie“ zu finden. In besseren Tagen behalf er sich damit, „diese Unausgeglichenheit“ zu seiner „Schreib-Trieb-Feder“ zu rationalisieren, aber das gelang ihm immer seltener.

Die Zürcher Journalistin Marianne Fehr hat jetzt eine 560 Seiten starke Lebensgeschichte Meienbergs vorgelegt, die sehr viel mehr ist als das. Besonders genau beschreibt sie Meienbergs Arbeitsstil und die damit eng verwobenen Freundschaften und Feindschaften, die er gleichermaßen virtuos für sich zu nutzen wußte. Dazu dienten ihm außer unendlich vielen Gesprächen in Kneipen und seinem elefantenmäßigen Gedächtnis für Sätze und Konstellationen sein legendäres „Archiv“, für das er mit seiner alten Hermes-Baby Blatt auf Blatt vollschrieb.

Über die Lebensgeschichte Meienbergs hinaus gelingt Marianne Fehr ein farbiges Bild des schweizerischen Zeitungswesens – mit all seinen Querelen, Intrigen und Eitelkeiten. Meienberg steht im Mittelpunkt der Darstellung, aber die Autorin bewahrt trotz Sympathie Distanz zu ihm. Daß der berserkerhaft um sich schlagende Haudegen alles in allem auch ein Opfer des gnadenlosen medialen Betriebs war, zeigt Marianne Fehr in jenen Passagen, die die Auseinandersetzungen mit dem Zürcher Tages-Anzeiger behandeln. Hier behielt Verlegermacht gegen eine redaktionelle Mehrheit die Oberhand und verhängte ein 14 (!) Jahre andauerndes Schreibverbot, das Meienberg – entgegen der von ihm verbreiteten Legende – nicht mit Pseudonymen unterlaufen hat.

Marianne Fehr stützt sich bei ihren vorsichtigen Wertungen auf den gesamten Nachlaß Meienbergs im Schweizerischen Literaturarchiv Bern sowie auf schriftliche und mündliche Zeugnisse einer guten Hundertschaft von Zeugen, Kollegen, Freunden und Feinden. Zusammen mit ihrer lapidaren Sprache schützt sie dieses dokumentarische Verfahren vor Einseitigkeit.

Die Biographie ist nicht zuletzt auch eine Studie zur wirtschaftlichen und sozialen Lage eines freien Zeitungsmitarbeiters in einem reichen Land. Die Befunde sind bedrückend: Außer in den kurzen Zeiten seiner Mitarbeit in der zu Recht als legendär bekannten Phase beim Tages-Anzeiger-Magazin (1970 – 72) und beim Hamburger Stern (1982/83) lebte Meienberg permanent an der Armutsgrenze mit seinen kläglichen Honoraren von oppositionellen Blättern wie Konzept, später Die WochenZeitung. Er hauste in schäbigen Wohnungen oder kleinen Zimmern, war immer in Geldnot, lebte auf Pump, vom Inhalt zahlreicher WG-Kühlschränke, von Freundinnen und Freunden, Familienmitgliedern und von der Großzügigkeit arrivierter Linker – darunter Max Frisch, Alexander J. Seiler, Urs Herzog und Moritz Leuenberger. Ein guter Freund gewöhnte sich an, von einem Buch, das er Meienberg lieh, gleich ein neues Exemplar zu besorgen, denn an eine Rückgabe war sowenig zu denken wie an die Rückzahlung von Darlehen.

Abgründig herrisch war Meienbergs Verhältnis zu Frauen, die der „enorme Schürzenjäger“ (Peter Bichsel) zuweilen wie Jagdtrophäen vorführte und ebenso schnell fallen ließ, wie er sie – mit seinem beträchtlichen Charme – erobert hatte. Oft interessierte er sich weniger für die Freundinnen als vielmehr für deren Geschichte und soziale Herkunft, die er ebenso skrupellos literarisch verwertete wie Beobachtungen bei privaten Einladungen. Hinter dem Bild des bis in die letzten Lebenswochen immer mit Begleiterinnen aus dem „unabsehbaren Mädchenheer“ (Meienberg) auftrumpfenden Machos stand jedoch eine tragisch einsame Person. Meienberg durchschaute, wie er die mögliche Liebe und Freundschaft ein ums andere Mal selbst zerstörte bzw. in Sexualverkehrs- oder Informationsquellenplanung verwandelte: „Ich kann mir Frauen immer nur im Zusammenhang mit außerordentlichen Leistungen (meinerseits) vorstellen, mit anderen Worten: die schönste für den Erfolgreichsten. Ich denke auch hier in Machtverhältnissen, was sicher falsch, aber nicht zu ändern ist.“ Diese Devise und die Hybris, mit der er gelegentlich Bach-Sonaten „verbesserte“, trieben ihn mit kalendarischer Regelmäßigkeit hinab in immer tiefere „Depressionen und Desolationen“ (Meienberg) – bis hin zur Selbstverachtung.

In ein trübes Licht geraten sind in der vorliegenden Biographie vor allem die gesinnungsstarken Kritiker Meienbergs aus Publizistik und Wissenschaft. Wer dem Autor handwerkliche Schwächen und sachliche Fehler nachweisen will, verkennt den Anspruch des Journalisten, der immer auch Schriftsteller war. Seine Arbeiten über den Landesverräter Ernst S. (gegen die Berner Professoren mit ihrer Unterschrift protestierten, obwohl sie nachweislich weder Buch noch Film kannten!), über den Hitler-Attentäter Bavaud oder über General Wille hatten einen dokumentarischen Kern, zielten aber über die Historikerzunft hinaus auf publikumswirksame historische Aufklärung. Dieser dienten die plastische sprachliche Aufbereitung und die – manchmal gewagten – Gegenwartsbezüge, fiktionalen Arrangements und „Bilder mit Plausibilitätsniveau“ (Jakob Tanner), mit denen Meienberg historischen Trends und politischen Mentalitätsmustern auf seine unnachahmliche Weise die Melodie ihrer immanenten Logik vorspielte und sie in ihrer ganzen Lächerlichkeit und Gefährlichkeit vorführte.

Meienberg hat als einer der ersten die selbstgerechte und bornierte Darstellung der jüngeren Schweizer Geschichte vor einem breiten Publikum als das dargestellt, was sie war: eine nationale Lebenslüge. Damit begann er schon in der Gymnasialzeit, als er die quasi staatsreligiösen Rituale unter dem Etikett „Antikommunismus“ durchbrach und die berechtigte Frage stellte: „Warum kommt es überhaupt zum Kommunismus?“ Vor den Fachhistorikern und lange bevor die Schweiz nachhaltig – vor allem von außen – dazu gezwungen wurde, ihr Verhältnis zur eigenen dunklen Vergangenheit zu überdenken – was die NZZ 1977 und noch lange danach für ein spezifisch deutsches Problem hielt –, hat Meienberg exemplarische Beispiele solcher Selbstreflexion geliefert. Man reibt sich heute die Augen, wenn man nachliest, wie in den 70er und 80er Jahren fast die gesamte schweizerische Publizistik diese historische Aufklärungsarbeit in die Nähe von Landesverrat und „Nestbeschmutzerei“ (Die Ostschweiz) rückte und selbst Wissenschaftler gegen die „permanente Selbstanklage“ (Georg Kreis) protestierten.

Abgesehen von gelegentlichen argumentativen Schwächen und polemischen Übertreibungen haben Meienbergs literarisch-journalistische Reportagen im deutschsprachigen Raum ästhetisch neue Standards gesetzt. Politisch versandete der Aufbruch von 1968, aber in den Feuilletons hat er eindeutige Spuren hinterlassen. Der spießig-nationale wie der prätentiös-bildungsbürgerliche Mief in der Mogelpackung „Geist und Kultur“ wurde gründlich vertrieben. Meienberg hat dazu einen Beitrag geleistet.

Es ist ein Gemeinplatz geworden, das schrille Leben Meienbergs, dessen chaotische Spontaneität, dessen massige Gestalt und das unverwechselbare Timbre seiner im gleichen Satz lyrischen, dramatischen und erzählenden Prosa mit der barocken Üppigkeit des Dekors und der Fresken in der St. Galler Klosterkirche zu vergleichen. Das ist richtig, aber beschreibt nur die Außenseite. Marianne Fehr will nicht Meienbergs Texte interpretieren, sondern den Autor sowie die mannigfaltigen Verbindungen zwischen diesem und den Texten darstellen. Seine Prosa ist ohne die auf jeder Seite greifbaren lebensgeschichtlichen Träger von der streng katholischen Erziehung über das Vertrauen in die Aufklärung bis zum Engagement für die kleinen Leute gegen die Mächtigen und Herrschenden undenkbar. Seine Texte werden dadurch zusammengehalten. Er erfuhr und durchlitt die soziale Ungerechtigkeit, die politische Borniertheit und die intellektuelle Dumpfheit im Lande fast körperlich. Meienberg lebte permanent mit dem uneinlösbaren Anspruch, er könne mit seiner Kritik an den herrschenden Eliten in Politik, Armee und Wirtschaft sowie an den helvetischen Zuständen überhaupt unmittelbar etwas verändern.

An diesem hybriden Anspruch mußte er scheitern, und gleichzeitig kettete er sich mit seinen Bannflüchen gegen Einzelpersonen an jene, die er kritisierte. Auf deren Anerkennung war er erpicht in all seinen Artikeln und Leserbriefen, in seinen Telefonanrufen und in seinen als „Besuche“ getarnten Überfällen. Letztlich behandelte er soziale und politische Themen immer als einen Kampf von Mann gegen Mann. Das gilt für seine Auseinandersetzung mit Bundesrat Kurt Furgler („King Fu“) ebenso wie für jene mit dem führenden Personal in der Wirtschaft, in der Armee und bei der Neuen Zürcher Zeitung (für die er am 24. 2. 67 einen Artikel schrieb), beim Fernsehen und beim Tages-Anzeiger. Ähnliches bekamen aber auch prominente Schriftsteller wie Adolf Muschg und Otto F. Walter sowie Kollegen zu spüren, die bei Auszeichnungen und Stipendien bevorzugt wurden. Adolf Muschg glaubt hinter Meienbergs Hang nach Anerkennung durch Autoritäten eine Form von „Vatersuche“ im polemischen Nahkampf mit diesen zu erkennen. So wie Marianne Fehr die absolut dominierende Rolle, die Meienbergs Mutter in dessen Leben spielte, nachzeichnet, spricht einiges für Muschgs Hypothese.

Marianne Fehr: „Meienberg. Lebensgeschichte des Schweizer Journalisten und Schriftstellers“. Limmat Verlag, Zürich 1999, 557 S., 48 Mark

Er durchlitt die soziale Ungerechtigkeit und die intellektuelle Dumpfheit im Land fast körperlich

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