: Letzte Ausfahrt USA
In diesem Jahr werden etwa 1.000 bosnische Flüchtlinge von Berlin in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten weiterwandern. Für das Ehepaar Hidanovic und seine drei Kinder ist die Ausreise in die USA die letzte Chance, einer Abschiebung zu entgehen ■ Von Sabine am Orde
Unruhig klopft Kadrija Hidanovic mit den Fingern auf die braune Kunstledermappe, die auf seinen Beinen liegt. Seit einer halben Stunde sitzt der 33-Jährige mit sieben anderen BosnierInnen in dem kleinen Wartezimmer des Vereins für Internationale Jugendarbeit (VIJ) im Europäischen Informationszentrum – einem klotzigen Neubau im Bezirk Wilmersdorf. Dann schallt sein Name über den Flur. „Sie haben Glück, der Termin vor Ihnen ist ausgefallen“, sagt VIJ-Mitarbeiterin Anne-Kathrin Wille in fließendem Serbokroatisch und nimmt den Mann mit in ihr kleines Büro.
An der Wand gegenüber von Willes Schreibtisch hängt eine Karte der USA. Daneben kleben Postkarten aus Atlanta, Salt Lake City, New York. Hidanovic hofft, bald auch eine solche Postkarte schicken zu können. Denn gemeinsam mit seiner Frau und den drei Kindern will er von Berlin in die USA weiterwandern. Der VIJ soll der Roma-Familie dabei helfen.
Das Haus der Hidanovics in Bosnien ist zerstört
Die USA nehmen als Teil ihres weltweiten Flüchtlingsprogramms seit 1993 BosnierInnen auf, die zwischen dem Ausbruch des Krieges und dem Abkommen von Dayton aus ihrem Heimatland geflohen sind. In diesem Jahr werden das wieder 15.000 bosnische Flüchtlinge aus Deutschland sein, mehr als 1.000 von ihnen aus Berlin. Im Auftrag des US-amerikanischen Konsulats in Frankfurt am Main berät der VIJ, ein Fachverband des Diakonischen Werkes der evangelischen Kirche, in Berlin InteressentInnen an dem Programm und bearbeitet ihre Anträge.
„Haben Sie alles mitgebracht“, fragt Wille, die hier als studentische Hilfskraft arbeitet und bei einem einjährigen Aufenthalt in Bosnien Serbokroatisch gelernt hat. Sie lächelt Hidanovic aufmunternd an. Der Mann, der Jeans, ein blaues T-Shirt und ein Handy am Gürtel trägt, ist nicht zum erstenmal hier. Vor etwa vier Monaten war er bei einer Informationsveranstaltung über das USA-Programm. Dort hat er eine Liste der Aufnahmekriterien mitgenommen. Schon damals haben er und seine Familie überlegt: „Wenn wir hier nicht bleiben und nicht nach Hause zurück können, wollen wir in die USA.“
Hidanovic blättert hektisch in seiner Mappe. Dann zieht er vier Fotos heraus und hält sie Wille hin: „Die müssen sie unbedingt dazulegen, damit die Leute sehen, dass wir nicht mehr nach Hause können.“ Auf den Bildern sind die Überreste eines Hauses zu sehen, von dem nicht mehr viel steht. Steine und Schutt bedecken die Erde. Hidanovic hat die Fotos selbst gemacht, als er im vergangenen Jahr seine Heimatstadt Bijeljina besucht hat, einem kleinen Ort in der serbisch dominierten Republik Srpska. Drei Monate blieb der Familienvater in Bosnien. Eigentlich sollte der Rest der Familie nachkommen. „Wir würden gerne zurück nach Hause“, sagt Hidanovic. „Aber wir können nicht. Unser Haus ist kaputt, und es sind immer noch die Menschen dort, die mich misshandelt haben.“ Erregt zieht er sein T-Shirt hoch und zeigt eine lange Narbe auf Nierenhöhe. Hidanovic kam zurück nach Berlin.
Washington hat die Familie als Wunschziel angegeben. „Weil das die Hauptstadt ist“, sagt Hidanovic. Es klopft an der Tür. Lächelnd bringt ein Mann Pralinen für Wille vorbei, um sich für ihre Unterstützung zu bedanken. Sein Antrag ist angenommen, in zwei Wochen wird er fliegen.
Nach dem Infoabend haben die Hidanovics ihre Biografien und ihre Fluchtgeschichte aufgeschrieben und an das VIJ geschickt. So haben die MitarbeiterInnen erfahren, dass der Vater 1992 von den Serben derart misshandelt wurde, dass er einen Nierenschaden davon trug. In Deutschland konnte er operiert werden, doch Beschwerden hat er noch immer. Seinem Bruder schlugen die Serben die Zähne aus, er lebt mit seiner Familie jetzt in Schweden. Die Hidanovics beschrieben auch, wie sie dann nach Berlin geflohen sind. Hier wohnt die Familie in einem Flüchtlingsheim im Bezirk Schöneberg, sie lebt von der Sozialhilfe. Das dritte Kind ist in Berlin geboren.
Washington ist das Wunschziel der Familie
Den VIJ-MitarbeiterInnen kam die Geschichte der Familie schlüssig und glaubwürdig vor, und sie erfüllt vor allem eine der vier Aufnahmekategorien: „P2, Opfer von Folter und Gewalt“, sagt Wille. Zu allen anderen Kategorien, die eine Einwanderung in die USA ermöglichen, gehören enge Verwandte in den USA.
Der VIJ lud die Hidanovics zu einem weiteren Gruppentreffen. Dort erklärten die MitarbeiterInnen ihnen die Antragsformulare und gaben einen Abgabetermin für sie aus. Beim ersten Termin vor einigen Wochen waren die Papiere nicht vollständig. Jetzt reicht der Familienvater einen Stapel Kopien über den Schreibtisch. Wille hakt ab: Passfotos, Aufenthaltsbescheinigungen, Ausweispapiere. „Da fehlt das polizeiliche Führungszeugnis von ihrem Sohn“, sagt sie und schaut Hidanovic fragend an. Der Sohn ist 14 Jahre alt und braucht wie die Erwachsenen ein solches Papier. „Das haben wir erste heute Morgen beantragt“, gibt der Vater zu und verspricht, es nachzureichen.
Wille erzählt später, dass die Ehefrau Einträge im Führungszeugnis habe. „Kleinkram wie Schwarzfahren“, sagt sie. Den Amerikanern sei das egal, aber hier sei der Roma-Frau deshalb die Duldung entzogen worden. Wie ihr Mann, der nach seinem Trip nach Bosnien nur illegal wieder einreisen konnte, hat sie nun eine sogenannte Grenzübertrittsbescheinigung. Diese verpflichtet die Familie, die Bundesrepublik bis Mitte Oktober zu verlassen, sonst droht die Abschiebung. Für die Hidanovics gilt noch eine Sonderregelung: Weil sie einen Antrag auf Weiterwanderung in die USA gestellt haben und ihnen der VIJ gute Erfolgsaussichten bescheinigt hat, gilt für die Familie ein Abschiebestopp.
Werthebach hat den Abschiebeschutz aufgehoben
Inzwischen aber hat Berlins Innensenator Eckart Werthebach (CDU) diese Sonderregelung aufgehoben. Wer nach dem 1. Oktober einen Antrag auf Weiterwanderung stellt, kann trotzdem abgeschoben werden. Werthebach ist der Ansicht, dass der Zeitpunkt der Rückkehr gekommen sei. Seine Sprecherin Isabell Kalbitzer sagte: „Die Leute müssen sich jetzt entscheiden.“
Die Ausländerbeauftragte des Senats, Barbara John (CDU), sieht das anders. Da die US-Regierung auch im Jahr 2000 bereit sei, bosnische Flüchtlinge aufzunehmen, so John, sei eine Verlängerung des Abschiebeschutzes sinnvoll.
Hidanovic hat seine Mappe zugeklappt, jetzt beschriftet er die Passfotos mit den Namen und Geburtsdaten der Familie. Immer wieder klopft es an der Tür. Die Flüchtlinge auf dem Gang und im Warteraum, bis zu 50 kommen an an einem Nachmittag, werden ungeduldig. Auch Willes Chefin, Eta Abasow, stürmt immer wieder herein. Mal sucht sie eine Akte, mal einen Stempel, mal ein Formular für die Beratung im Nebenzimmer.
Wenn Hidanovic die fehlenden Papiere nachgereicht hat und der Antrag vollständig ist, schickt der VIJ diesen an die Zentrale des Diakonischen Werkes in Stuttgart. Dort wird er noch einmal geprüft und dann an das US-Konsulat weitergereicht. 95 Prozent aller Anträge, die im Konsulat eingehen, werden positiv beschieden. Insgesamt 2.000 Antragsverfahren laufen derzeit beim VIJ, 2.500 BosnierInnen sind bereits von Berlin aus in die USA oder nach Kanada weitergewandert. Kanada aber hat sein Aufnahme-Programm inzwischen wieder eingestellt. Derzeit leben noch 11.500 bosnische Kriegsflüchtlinge in Berlin.
Für die Hidanovics beginnt dann das Warten auf ein Interview bei der amerikanischen Behörde, das zwei bis vier Monate später stattfindet. Bis dahin wird die Grenzübertrittsbescheinigung der Familie abgelaufen sein, die Hidanovics haben dann keinen Aufenthaltsstatus in Deutschland mehr. „Das kann Probleme mit dem Bundesgrenzschutz geben“, erklärt Abasow später. „Deshalb finden solche Gespräche außerhalb der Botschaft statt, wo der BGS nicht kontrolliert.“ Dennoch seien die Hidanovics für Eta Abasow „ein ganz typischer Fall“.
Im dem etwa halbstündigen Gespräch müssen die Erwachsenen getrennt von einander ihre Lebens- und Fluchtgeschichte darlegen und erklären, warum sie in die USA wollen. Wenn sie im Anschluss Infos über die USA bekommen und zum Arzt geschickt werden, geht alles klar: Dann können sie etwa weitere drei Monate später ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten fliegen.
Die Anerkennungsquote des VIJ liegt bei 95 Prozent
Familien wie die Hidanovics müssen vorher allerdings noch Geld zusammenkratzen. Sogenannte Rück-Rückkehrer, wie der Familienvater, der in Bosnien war und zurück nach Berlin gekommen ist, müssen die aus öffentlichen Mitteln finanzierte Rückkehrhilfe zurückzahlen. Für Hidanovic sind das knapp 1.000 Mark.
Jetzt muss in den USA nur noch aus einem Pool von Sponsoren derjenige gefunden werden, der die Familie drei Monate lang unterstützt. Danach müssen sie alleine klarkommen und bald auch die Kosten für den Flug zurückzahlen, die eine Hilfsorganisation vorschießt. „In den USA darf ich ja arbeiten, da wird das gehen“, sagt Hidanovic, der in Bijeljina als Kellner und Lkw-Fahrer gearbeitet hat. Dann klemmt er sich seine braune Mappe unter den Arm und geht.
Vielleicht wird auch er sich bald mit Pralinen bei Anne-Kathrin Wille bedanken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen