: Utopia liegt gleich hinter dem Stadtwald
■ Auch die Bremer Universität hat ihre (versteckten) Reize. Der Stadtplaner Robert Lemmen enthüllt sie in einem neuen Buch
Die Geschichte der Universität Bremen muss erneut umgeschrieben werden. KollegInnen, die ihr in vollklimatisierten Räumen arbeiten müsst: Vergesst eure Wehwehchen. Wanderer, die ihr schon seit 15 Jahren auf der Suche nach Raum B 3412 im geisteswissenschaftlichen Labyrinth GW 2 herumirrt: Haltet inne. AbsolventInnen, die ihr in Erinnerung an eure Wege vom Sportturm über den Boulevard zur Mensa die Mundwinkel nach unten zieht: Zieht sie nach oben. Denn die Bremer Uni ist schön. Sie hat zumindest ihre Reize. Behauptet und beweist jedenfalls der Stadtplaner Robert Lemmen, der jetzt ein Buch über die versteckten und offenen Qualitäten der Studierfabrik veröffentlicht hat.
Geht man mit dem gebürtigen Dortmunder zur Uni, kann man die kleine Welt des Bremer Campus neu entdecken. Über die Potenziale und die Hochwertigkeit des Geländes kann der eher zurückhaltend wirkende Robert Lemmen regelrecht ins Schwärmen geraten. Die Uni mit all ihren Auf- und Abgängen, Fuß- und Verkehrswegeführungen, Hoch- und Zweckbauten ist für ihn trotz vorhandener und durchaus eingestandener Fehler ein Stück Wirklichkeit gewordene Utopie. Und er hält daran fest, obwohl kaum eine Disziplin in so kurzfristigen Intervallen ihre Ideale über den Haufen wirft wie die Stadtplanung.
Alles begann mit der Empfehlung des Wissenschaftsrates der Bundesrepublik aus dem Jahr 1960. Das Gremium empfahl damals dringend die Neugründung von Universitäten. Neben den Städten Bielefeld, Bochum oder Regensburg wollte sich auch Bremen eine Universität leisten, die ihre Stellung in der Gesellschaft als „Stätte kritischer Bewusstseinsbildung“ finden sollte. Außer dem „Demonstrativbauvorhaben“ in Osterholz-Tenever gab es in Bremen damit einen zweiten Ort für PionierInnen: Auf dem Gelände nordöstlich des Stadtwaldes sollte nicht weniger als ein städtebauliches Ideal verwirklicht werden.
Heutzutage geschieht Vergleichbares höchstens in den Entwicklungsstädten Israels oder auf den Poldern der Niederlande. Mit großen Abstrichen kann man auch die in vielen Städten entstehenden Einkaufs- und Amüsierzentren dazu zählen. Die Revitalisierung von großen alten Industriebrachen, die heute in nahezu jeder Großstadt Europas auf der Tagesordnung steht, muss sich mit vorhandener Bausubstanz auseinandersetzen. Dagegen entstanden Projekte wie die Bremer Uni quasi auf der grünen Wiese. Ihre Verflechtung mit der Stadt war von Anfang an ein Thema, das bis in die Gegenwart noch nicht ganz abgeschlossen ist.
Bald nach einem städtebaulichen Wettbewerb 1967 wurde der Zentralbereich der Bremer Uni buchstäblich aus dem Boden gestampft. Im Gegensatz zur Ein-heitsarchitektur der Uni Bochum kamen in Bremen von Anfang an mehrere ArchitektInnen zum Zuge. „Ein Bochum genüngt für dieses Jahrhundert“, zitiert Robert Lemmen den an der Universitätsplanung in Dortmund beteiligten Werner Ruhnau in seinem vor allem durch Skizzen und Entwürfe reich illustrierten Buch. Wenn man mit Lemmen über den – nun doch so genannten – Campus schlendert, weist er auf Details hin: Dass zum Beispiel das Parkhaus am Sportturm nicht verblendet und so zu einem uneinsehbaren Raum wurde, ist in seinen Augen nur einer von vielen Beweisen dafür, wie viele gute Gedanken sich die PlanerInnen damals gemacht haben.
Der dem Gesamtplan zugrunde liegende Wettbewerb ist aus heutiger Sicht völlig ungewöhnlich. Während heute ein buntes Durcheinander von Lösungen vorgeschlagen würde, plädierten damals alle der rund 120 eingereichten Arbeiten für die isoliert liegende städtebauliche Großform. Das traditionelle Campus-Prinzip hätte laut Lemmen keine Chance gehabt. Die Uni sollte ein optimiertes System Stadt werden.
Die StadtplanerInnen der 60-er Jahre waren seltsam einig. Ihr Fortschritts- und Lösungsoptimismus war noch ungebrochen. Für die erwartete (und von der Wirklichkeit längst übertroffene) Verkehrsflut hatten die PlanerInnen eine Patentlösung: die Trennung der Ebenen für die Verkehre. An der Uni zeugt davon noch heute der über 400 Meter lange Boulevard, der in etwa fünf Metern Höhe die Gebäude miteinander verbindet. Die Folge dieser Architektur: die Zugänge zu den Zentralgebäuden auf der Nullebene sind unwirtlich. Geplant war damals auch eine dritte Ebene für eine Hochbahn. Auf acht Meter hohen Stelzen sollte sie den Boulevard kreuzen. Eine dafür vorgesehene Treppenanlage ist erst vor kurzem entfernt worden.
Von Anfang an zerbrachen sich die PlanerInnen den Kopf darüber, wie die Uni mit der Stadt verzahnt und durch die anderen städtischen Funktionen Wohnen und Gewerbe ergänzt werden kann. Die „Hollerstadt“, die bis zum so genannten Baulandskandal nördlich der Autobahn für 50.000 EinwohnerInnen entstehen sollte, spielte dabei nur eine Nebenrolle. Die Uni-Pläne waren schon fast fertig, als die ArchitektInnen auch die „Hollerstadt“ in ihre Gedanken einbeziehen sollten.
In mehreren Gutachten und Wettbewerben wurden auf dem Unigelände Wohnhäuser verschiedensten Typs geplant. Fast alle GutachterInnen sahen damals die „Notwendigkeit öffentlichen Lebens“. Eine möglichst ganztägige räumliche Konzentration von Menschen war und ist dafür die Voraussetzung. Die Leere der Uni während der Semesterferien und auch die mangelnde Aufenthaltsqualität im Technologiepark zeigen, wie wenig diese Notwendigkeit bis heute eingelöst ist. Große Hoffnung setzt Robert Lemmen auf die Umgestaltung des Zentralbereichs. Wie in einem „chirurgischen Eingriff“ wird zurzeit das Dach über dem Boulevard entfernt und der Blick auf die verschiedenen Gebäudetypen freigegeben. An der Straßenbahnhaltestelle entsteht nach dem Entwurf des Büros Alsop und Störmer eine verglaste Halle. In gewollter Ähnlichkeit zu Flughafenterminals oder Bahnhöfen soll hier im nächsten Jahr das Leben pulsieren.
Über die Vernetzung der Uni mit Gewerbebetrieben wird nicht erst seit Beginn der Technologiepark-Planung Mitte der 80-er Jahre diskutiert. Doch erst nach dem Baulandskandal und der zurückgehenden Nachfrage an Wohnungen in Großwohnanlagen wurde der Schwerpunkt bei der Bebauung des riesigen Uni-Geländes auf Gewerbe gelegt. Zur Lernfabrik mit ihren dramatisch inszenierten Anlagen der Haustechnik oder den frei stehenden Aufzugstürmen gesellten sich zwar keine echten Fabriken, aber mehr oder weniger universitätsnahe Institute und Firmen. Nach einem weiteren Konzept (vom Büro Böhm, 1987) und seiner Fortschreibung durch das Pla-nungsamt (1993) entstanden rund um die städtebaulich geballte Sonderform Universität eher klassisch angeordnete Neubauten.
Robert Lemmen hat durchaus Kritik an dieser Neuentwicklung. „Der Grundstückspreis orientiert sich an der Konkurrenz anderer Gewerbestandorte und ist relativ niedrig“, schreibt er in seinem Buch. Ein Anreiz zum flächensparenden Bauen fehle damit, „die Bebauung wirkt noch lückenhaft“. Trotz einzelner Ausnahmen glaubt Lemmen, dass sich dieser Trend eher verstärkt. Statt auf eine Urbanisierung des gesamten Areals setzt er auf eine Verdichtung begrenzter Zonen. Ganz so, wie es im Zentralbereich zurzeit geschieht. Und da kann er wieder ins Schwärmen geraten: Über die Symbiose der Architekturen der End-60-er und der 90-er Jahre und darüber, welche guten Gedanken da zu Gebäuden werden. Christoph Köster
Robert Lemmen: „Vom Campus zum Stadtteil – 30 Jahre Stadtplanung für die Universität Bremen“, Aschenbeck & Holstein, 25 Mark
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