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Wenn der Kanzler schummelt

Schröder verwendete falsche Arbeitslosenzahlen. Rede sollte schließlich „keine wissenschaftliche Arbeit“ sein

BERLIN taz ■ Ob jemand lügt oder nicht, ist eine Frage des Standpunkts. Für die Chinesen beispielsweise gilt als List, was Deutsche als Lüge bezeichnen würden. In chinesischen Zeitungen wird offen diskutiert, wer sich wann welcher List bedient habe, um seine Ziele zu erreichen. Deutsche Politiker hingegen moralisieren gerne über die Lügen der Konkurrenz – und liefern dadurch die eigene gleich mit. Aber ein paar objektive Wahrheiten gibt es doch, für alle: Zahlen!

Die Chinesen haben einen Heidenrespekt davor. Bei Zahlen hört die List auf. Bei Kanzler Gerhard Schröder fängt die Schummelei damit an. „In den vergangenen zwei Jahren haben wir die Zahl der Arbeitslosen um mehr als eine Million zurückdrängen können“, verkündete Schröder in seiner Neujahrsansprache. Um mehr als eine Million! Da möchte man doch gleich einen Blick in die Arbeitslosenstatistik werfen, um sich die schöne Bilanz bestätigen zu lassen. Paul M. Schröder (mit dem Kanzler nicht verwandt) vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung hat genau dies getan – und erlebte eine herbe Enttäuschung.

Nur um knapp 300.000 ist nämlich laut Statistik die Zahl der Arbeitslosen zwischen Herbst 98, dem rot-grünen Regierungsantritt, und Spätherbst 2000 gesunken. Nichts war es mit dem Schröder’schen Arbeitslosenwunder. Doch das Bundeskanzleramt zeigt auf Nachfrage keine moralischen Bedenken: „Wir sagen nichts dazu, wenden Sie sich ans Bundespresseamt.“ Dort holt eine Mitarbeiterin eine Erklärung ein: Schröder habe schlichtweg die Zahlen vom ersten Halbjahr 98 mit den Zahlen vom Herbst 2000 verglichen. Anfang 98 aber war Schröder noch nicht im Amt. Im Januar 98 lag die Zahl bei 4,8 Millionen und sank dann – noch zu Kohl-Zeiten – auf 3,9 Millionen im September 98. So viel zur Wahrheit.

Es sei ja schließlich „eine Rede gewesen, keine wissenschaftliche Arbeit“, entschuldigt die Dame vom Bundespresseamt den Schröder’schen Silvesterknaller. Im Übrigen habe der Kanzler die Zahlen auch schon in Bundestagsdebatten verwendet. Aha.

Wenn korrekte Arbeitslosenzahlen schon als „wissenschaftliche Arbeit“ gelten, stimmt das nachdenklich. Wenn Bundestagsdebatten als Beweis dafür gelten, dass man Lügen weiterverbreiten darf, stimmt das noch nachdenklicher. Im Bundestag wird alles wahr: Hier spricht der König! So setzt man neue Maßstäbe, wenn auch nicht unbedingt bei den Arbeitslosen: Reden sind nur Reden, wer’s glaubt, ist selbst dran schuld. Irgendwer musste es mal wieder sagen – indirekt. Und pünktlich zum neuen Jahr. BARBARA DRIBBUSCH

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