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Exilanten auf Londons Straßen

Der heimwehkranke Dichter konnte es kaum fassen: Sein alter Freund und Förderer Alfred Kerr wohnte in einer Seitenstraße des Russell Square in einem Schweizer Hotel, „in dem man in anheimelnd schweizerischer Mundart angesprochen wurde?“, so Max Hermann-Neiße in einem Brief an seine Frau Leni im Januar 1936. Doch damit nicht genug: Kerr, der Schriftsteller, der erst wenige Wochen zuvor nach London gekommen war, kannte auch einen Pub, „wo man fast wie wie bei der Maenz am Buffet saß“, und der aus hauseigenen Lautsprechern „ausgerechnet ein Potpourri deutscher Studentenlieder ertönen ließ“. Für die beiden von den eigenen Landsleuten aus Berlin vertriebenen Schlesier Anlass genug, von längst vergangenen Studententagen zu träumen.

„In London treffen wir uns wieder“, lautet so denn auch der Titel eines Buches von Steffen Pross. In den Dreißiger- und Vierzigerjahren trafen sich in der englischen Kapitale deutschsprachige Maler, Literaten Schauspieler, Musiker, Philosophen. Ob Oskar Kokoschka, Norbert Elias, Stefan Zweig oder Sigmund Freud, sie alle waren vor Hitler und dem Dritten Reich an die Themse geflohen und haben in London eine Stück Kulturgeschichte hinterlassen. In vier Stadtspaziergängen – zwischen Regent Park und Marble Arch, durch Bloomsbury nach Soho, ein Tag in Hampstead und einmal rund um den Hyde Park – zeichnet das Buch Wege ihrer Emigration nach. Die Stadt, die Tausenden Zuflucht bot, blieb dabei für viele nur Durchgangsstation. Die meisten machten sich auf den Weg nach Amerika.

Das Buch von Steffen Pross ist ein kleines Nachschlagewerk des Exils an der Themse, eine Sammlung wenig bekannter Geschichte und Geschichten. Die vier aufgezeichneten Routen versammeln oft gehörte und neue Namen. Sie präsentieren kurze Biografien, aber auch ungewöhnliche Details über die Personen und ihre Spuren, die sie im Londoner Pflaster hinterlassen haben. Dass sich der Autor zudem auf bisher selten herangezogene Literatur beruft, macht die Streifzüge umso spannender. Hinweise zu den literarischen Pfaden sind zum jeweiligen Kapitel und der jeweiligen Person in Randspalten ohne Rand angegeben. Zur Person gibt es dort auch jeweils eine Kurzbiografie.

Ins Auge fällt darüber hinaus das sehr übersichtliche und andersartige Layout, das durch die sparsame Bebilderung in Schwarzweiß mit Personen und Situationen sehr locker und lebendig wirkt. Die alten Fotografien überziehen das ganze Buch mit kulturgeschichtlicher Patina.

Der Band ist eine kleine Fundgrube für London- und Kunstliebhaber. Und er hat einen eindeutig touristischen Gebrauchswert für den London-Besuch, indem die gelegten Routen durch die Straßen der Metropole ein Stück Geschichte an ganz konkreten Plätzen aufleben lassen.

EDITH KRESTA

Steffen Pross: „In London treffen wir uns wieder“ – vier Spaziergänge durch ein vergessenes Kapitel deutscher Kulturgeschichte, Eichborn Verlag, Frankfurt 2000, 223 Seiten, 44 DM

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