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Das öffentliche Haus

Joschka wohnte in der WG der Hagestolze. Daniel pflegte zu überprüfen, wer mit wem. Für die RAF waren die Hausbewohner „nützliche Idioten“

„Ein schlechter Ort, um Waffen zu lagern oder Terroristenzu beherbergen“

von HEIDE PLATEN

„Dies ist unser Haus . . .“, der Fußboden vibriert, wackelt, biegt sich. Im zweiten Stock wird zur Einzugsfete getanzt. Aus den Boxen dröhnen Ton Steine Scherben. Die Berliner Band spielt im Sommer 1972 die Leib-und-Magen-Lieder der Hausbesetzerszene in Berlin und Frankfurt. Im ersten Stock macht sich der künftige Außenminister Joschka Fischer ernstliche Sorgen, dass ihm zwar nicht der Himmel, wohl aber die Decke auf den Kopf fallen könnte. Die größte Decke im größten Zimmer: „Er hatte die meisten Bücher“, erzählt einer seiner einstigen Hausbewohner. Joschka Fischer entschließt sich, der Gefahr direkt ins Auge zu blicken. Und feiert lieber oben mit, statt unten zu bangen. Die Nachbarn haben eine niedrigere Toleranzschwelle und rufen die Polizei.

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Das Haus Bornheimer Landstraße 64, ein maroder Altbau im Stadtteil Nordend, Ecke Friedberger Platz, ist ab 1971 nicht besetzt, sondern ordentlich angemietet worden. In fünf der sechs Wohnungen sind kurz nacheinander junge Leute aus der Frankfurter Spontiszene eingezogen. StudentInnen, junge Wissenschaftler, etliche von ihnen waren oder sind im Revolutionären Kampf (RK) organisiert, der in seinen besten Zeiten bis zu achthundert Leute zählte. Nur im dritten Stock links wohnt noch die Familie K. Sie wird in den kommenden Jahren permanent über die laute Musik und den Knoblauchgeruch der italo- und frankophilen Wohngemeinschaftsküche klagen, einen Geruch, der vor dreißig Jahren ebenso in Verruf stand wie lange Haare, Jeans und Promiskuität.

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Das Haus ist zwar nicht besetzt, aber dennoch weitgehend befreites Gebiet: gemeinsam arbeiten, gemeinsam leben. Abgeschlossene Wohnungstüren gibt es nicht. Zum einen klemmen sie sowieso, weil die Schlösser beschädigt sind, zum anderen liegt im Hausflur ein nützliches Mitbringsel aus Frankreich. Das Austernmesser kommt als Türöffner zum Einsatz, wenn zum Beispiel im ersten Stock niemand zu Hause ist, im zweiten aber gerade eine Prise Salz, ein Buch oder ein Bett für einen durchreisenden Gast gebraucht wird. Freier Zugang für alle.

Diese Offenheit ist Ausdruck des Lebensgefühls der 68er Revolte. Alles ist nicht nur offen, sondern auch öffentlich, auch das Privatleben und die Beziehungen zwischen Männern und Frauen, Frauen und Frauen, Männern und Männern. Beziehungsprobleme werden in den Wohngemeinschaftsküchen durchlebt, durchlitten, lautstark, manchmal handgreiflich ausgetragen, bis ins Detail diskutiert. Diejenigen, denen das aufgrund ihrer prüden Erziehung der Nachkriegszeit zu nahe geht, haben einen schweren Stand. Diejenigen, denen es leicht fällt, haben allerdings ebenfalls schnell genug von so viel Teilhabe am öffentlich gelebten Liebesleben und gleichzeitiger Unüberschaubarkeit, von Machtkämpfen und den Zweierbeziehungen und schlichter Eifersucht, die damals in strafendem Ton „bürgerlicher Besitzanspruch“ genannt wurde. Die Kleinkriege zerrten auf Dauer zu sehr an den Nerven der Mitbewohner. Die Wohnungen werden neu belegt. Im ersten wie im zweiten Stock ziehen die Frauen in die rechte, die Männer bleiben in der linken Wohnung. Ein Übergang via den Eckbalkon wird später von einem frustrierten Beziehungsgeschädigten im Alleingang gesperrt. Beziehung ja, Beziehungskrach auch, aber bitte nicht mehr in einer Wohnung.

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Dies ist der Stand in der Bornheimer Landstraße 64, als die ehemalige RAF-Terroristin Margrit Schiller 1973 zu Besuch kommt. Sie habe sich, schreibt sie in ihrer 1999 erschienenen Autobiografie „Es war ein harter Kampf um meine Erinnerung“, den RK ansehen wollen. Da ist sie nicht die Einzige. Viele informieren sich in diesen Jahren über Betriebsarbeit und Stadtpolitik des RK, über Mietstreiks, Hausbesetzungen des Häuserrates und Stadtteilgruppen in Frankfurt, auch aus Schillers eigenem Umfeld. Auch Brigitte Asdonk, erste RAF-Generation, wegen Bankraub zu 12 Jahren Haft verurteilt, interessierte sich für die Politik des RK. Aus dem Gefängnis schreibt sie Briefe, die von zwei extra dazu abgeordneten RKlern gesammelt und beantwortet werden: „Die waren für die Gefängnisse zuständig“, heißt es von einem Ex-Bornheimer. Etliche, die in jenen aufgeheizten Zeiten nach Todesschüssen der Polizei, Häuserabrissen, Hausdurchsuchungen, Untersuchungshaft den Ausbruch aus der eigenen Ohnmacht mit der Waffe ernsthaft erwogen, werden in Gruppen- und Einzelgesprächen – Konsens der Spontiszene – festgehalten, aufgefangen und zurückgeholt. Andere entziehen sich.

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Margrit Schiller ist eine von ihnen. Sie übernachtete, gerade aus dem Gefängnis entlassen, tatsächlich im ersten Stock der Bornheimer Landstraße, allerdings nicht in der Männer-WG von Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit, sondern in der benachbarten Frauenwohnung. Eine ehemalige Bewohnerin erinnert sich und versicherte der taz diese Woche: „Die war nicht bei Fischer, sondern bei uns. Ich kam spät nach Hause, und da lag die in meinem Bett.“ Die Frau sei ihr nicht etwa deshalb in Erinnerung geblieben, weil sie berühmt oder berüchtigt gewesen wäre. Ihr sei damals nur unangenehm aufgefallen, dass die Besucherin im Gespräch nie einfach nur „USA“ sagen konnte, sondern immerzu das befremdliche, den Redefluss deutlich hemmende „USA/SA/SS“ heruntergehaspelt habe.

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Andere Besucher führten anderes im Schilde. Der später als Spitzel der Polizei bekannt gewordene Buddy H. nutzte offene Türen und Schubladen schlicht zum Stehlen. Bei Festen und Feiern mögen auch verdeckt operierende RAF-Mitglieder oder deren Sympathisanten Eingang gefunden haben. Sie blieben unerkannt und hatten nur eines im Sinn: den Verrätern und Reformisten, die RAF-intern bestenfalls als „nützliche Idioten“, meist aber als „Schweine“ bezeichnet wurden, die Pässe zu stehlen, um unter falschem Namen reisen zu können. Einmal, erinnert sich ein Anwohner, sei auch der seine verschwunden gewesen. Er habe einen persönlichen Verdacht gehegt, diesen laut und öffentlich in den Szenewirtshäusern ausgesprochen und mit einer Anzeige gedroht. Kurze Zeit später sei sein Ausweis wieder da gewesen.

„Nette Leute,die haben sogarihr Geschirr abgewaschen“

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Die Bornheimer Landstraße jedenfalls war ein so öffentliches Haus, dass sie Touristen bei Stadtrundfahrten gezeigt wurde: „Da wohnt Daniel Cohn-Bendit.“ Zeitweise gaben sich die Besucher die Klinke in die Hand. Die Band „Ton Steine Scherben“ mit ihrem Sänger Rio Reiser übernachtete dort: „Nette Leute, die haben sogar ihr Geschirr abgewaschen.“ Der französische Philosoph André Glucksmann, damals noch relativ unbekannt, war zu Gast. Zeitungsleute und Verleger kamen und gingen, internationale politische Freunde und Gegner, etliche französische Fernsehteams, die „Dany le rouge“ filmen wollten.

Auch die Ordnungsbehörden behielten das Haus und seine für den damaligen Geschmack reichlich aufmüpfigen Bewohner ständig im Blick. „Ein denkbar schlechter Ort also“, sagt ein ehemaliger Bewohner aus dem zweiten Stock, „um dort Waffen zu lagern oder Terroristen zu beherbergen“.

Gastfreundschaft gehörte in einer Zeit, in der es selbstverständlich war, sein Auto zu verleihen, zu den Grundregeln in den besetzten und den Szenehäusern. Symptomatisch für den Zeitgeist auch die Erinnerung einer damals noch jungen Frau, die von sich sagt, sie sei „noch völlig unpolitisch“ gewesen. Die sexuelle Libertinage aber habe sie als Zeit der Befreiung empfunden. Etliche der Männer aus „der Bornheimer“ habe sie gekannt, „aber nur aus dem Bett“. „Unmöglich“, sagt auch Daniel Cohn-Bendit, damals im Haus für seine Neugier bekannt, den Überblick zu behalten, wer wann wo mit wem schlief: „Die Betten waren immer voll.“ Sicher ist er sich, daß Margrit Schiller jedenfalls weder in dem seinen noch in Joschka Fischers gelegen hat: „Wir waren eine Männer-WG.“ Und die hatte zuzeiten nicht etwa die Züge veritabler Machos, sondern eher die unfreiwillig komischen leicht verschrobener Hagestolze, die es leid waren, sich von den sich emanzipierenden Frauen zivilisieren zu lassen.

Keine Waffen also, keine Terroristenherberge. Der Rest bleibt nachträgliche Manipulation der Medien, Geschichtsklitterung, Melange auf der Gerüchteebene oder einfach anekdotisch, Bruchstück der Erinnerung der vielen, die dort eine Zeit lang lebten und heute vereinzelt andere Wege gehen. Dass zum Beispiel Daniel Cohn-Bendit als durchaus liebenswertes Original galt, weil er als Frühaufsteher morgens im Bademantel zum Zeitungskiosk quer über die Straße lief, um seinen Informationshunger zu stillen, ist noch lange im Stadtteil erzählt worden. Margrit Schiller erinnert sich an ein großbürgerliches Haus. Das war die Fassade. Andere erinnern sich anders. Keine Bäder, Kohleöfen, die schlecht zogen, bittere Kälte im Winter, weil die Öfen wegen Unerfahrenheit und Unachtsamkeit der Bewohner ausgingen. Die Briketts wurden mangels Kellers im VW vor der Tür gelagert. Wie Mitbewohner nächtens aufschreckten, weil andere, betrunken und mit der Axt bewaffnet, sich selbst gefährdend Feuerholz machten. Da waren auch noch mehrere Hausdurchsuchungen, Angst vor Feuer, ein angebrannter Braten im zweiten, ein aus ungeklärter Ursache im ersten Stock ausgebrochener Zimmerbrand, Wasserschäden, Grünkohlessen beim späteren Gourmetkoch im dritten Stock. Und später Trennungen, einige politische Aufstiege, das ganz normale Leben für die meisten.

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