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Startrampe zurück ins Leben

Einrichtungen für betreutes Wohnen helfen psychisch Kranken wieder in die Selbständigkeit. Eine Rückkehr „in die Umlaufbahn“: Für Thomas S. ein Stück heile Welt  ■ Von Sandra Wilsdorf

Der Alltag ist das Ziel. Wieder alleine einkaufen gehen zu können, mit U-Bahn oder Fahrrad zu fahren, das Gewühl der Menschen in der Stadt zu ertragen, den eigenen Haushalt zu schaffen. „Ein Gesunder würde nie erzählen, dass er morgens aufgestanden ist, sich geduscht hat, einkaufen gegangen ist und vielleicht einen Kuchen geba-cken hat“, sagt Wiebke E. Sie ist 36. Und dass sie jetzt wieder zweimal die Woche alleine zum Aldi geht, kocht, saubermacht und Fahrrad fährt, ist für sie ein Riesenfortschritt zurück ins Leben.

Sie ist jetzt im dritten Jahr hier, beim Betreuten Wohnen in der Wandsbeker Allee. Sie kommt jeden Tag, außer samstags, da ist geschlossen. Die Einrichtung der Hamburgischen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie kümmert sich um psychisch kranke Menschen, die in ihren eigenen Wohnungen leben, aber tägliche Betreuung und Behandlung benötigen. Die Klienten verbringen hier ihre Tage. Sie reden, spielen, kochen, basteln, machen Ausflüge, gehen in Museen, ins Kino, nach draußen. Jeweils drei von ihnen teilen sich einen Ansprechpartner aus einem Team, in dem Sozialpädagogen, Krankenpfleger, Psychologen und Ergotherapeuten sind. Die helfen ihnen in den kleinen Dingen des Lebens ebenso wie in den großen Fragen. „Viele von uns sind Singles und haben zerstörte Familienverhältnisse. Hier entwickeln wir wieder Zugehörigkeiten“, sagt Thomas S., der seit eineinhalb Jahren herkommt.

„Es ist so eine Art Startrampe ins Leben zurück“, sagt er und meint, dass er sich vorstellen kann, seinen Alltag irgendwann wieder ganz alleine zu meistern. „Ich habe hier so viele Anregungen bekommen“, sagt er. Zweimal schon war er in der Psychiatrie. Beim ersten Mal war er noch sehr jung. „Ich ging noch zur Schule, kam mit den Menschen und der deutschen Vergangenheit nicht klar.“ Er hatte Alkoholprobleme, ging von sich aus zum Psychiater. Als er vom Alkohol weg war, schmiss er die Schule, arbeitete in der Fab-rik. „Das habe ich nicht lange ausgehalten.“ Er wechselte zurück aufs Gymnasium, machte Abitur, studierte.

Zu seiner Familie hatte er da schon kaum noch Kontakt. „Schizophrenie, Neurose, Psychose, das sind Worte, die die meisten Menschen überfordern.“ Thomas S. isolierte sich, „und die waren froh, dass ich mich zurückzog“. Der heute 49-Jährige ist ohne Vater und fast ohne Mutter aufgewachsen, aber als innerhalb von fünf Jahren fünf Familienmitglieder starben, warf ihn das wieder aus der Umlaufbahn seines Lebens. „Ich hatte gar keinen Kontakt zu denen gehabt, aber dass sie nicht mehr da waren, hat mich irgendwie den Glauben an die Zukunft gekostet.“ Dazu kamen der Herzinfarkt und die Gehbehinderung, die er seit zehn Jahren hat. „Dass das nicht mehr geht, ist heftig.“

Aber er kann sich wieder freuen: „Das Tolle an dieser Einrichtung ist, dass wir trotz unserer Krankheiten ein Stück heile Welt erleben können.“ Er hat jetzt wieder eine Freundin. Und wenn die Angst zurück kommt, ist er nicht allein. „Vor ein paar Wochen war das, da konnte ich nicht hierher fahren.“ Also wurde er abgeholt. Inzwischen kommt er auch wieder alleine.

Auch Wiebke E. kommt selbständig. Mit dem Fahrrad, das sie sich vor einem Jahr gekauft hat, „das ist für mich nichts Selbstverständliches“. Früher, ja da wäre es das gewesen, selbstverständlich. „Da habe ich gearbeitet und den Haushalt nebenbei gemacht.“ Aber dann hat auch sie etwas aus der Bahn katapultiert. „Ich hatte drei Psychosen.“ Wie sie nach der letzten hierher gekommen ist, weiß sie nicht. „Ich war so krank und so voll mit Medikamenten, ich kann mich an nichts erinnern.“

Am Anfang hat ein Betreuer sie jeden Morgen geholt und jeden Abend gebracht. „Hier habe ich im Ruheraum gelegen, Mittag gegessen, im Ruheraum gelegen, Kaffee getrunken, wieder im Ruheraum gelegen.“ Zu Hause ist sie ins Bett gegangen. Doch dann hat sie den Arzt gewechselt und mit ihm das Medikament. Irgendwann hat es sie mehr gestresst, dass sie sich als 35-Jährige von einem jungen Mann durch die Gegend kutschieren lassen muss, als der Gedanke, sich eine Fahrkarte zu kaufen und mit anderen Menschen in der U-Bahn zu sitzen. Und dann kam das Fahrrad. „Jetzt geht es mir so viel besser, das ist gar kein Vergleich.“ Aber sie hat immer noch Schwierigkeiten, sich in ihrer Wohnung zu beschäftigen. „Sonnabends versuche ich immer, eine Verabredung hinzukriegen.“

Thomas S. und Wiebke E. sind zwei von etwa 30 psychisch Kranken, die die Einrichtung betreut. „Etwa die Hälfte von ihnen kommt hierher, zu den anderen fahren wir nach Hause“, sagt Jörg Rolfsmeier, einer der Sozialpädagogen. Am 11. Mai feiert die Einrichtung, die Klienten aus Wandsbek und Hamburg Nord betreut, ihren zehnten Geburtstag. Entstanden ist sie mit der Idee, Psychiatrie-Patienten den Drehtüreffekt zu ersparen – unter dem viele leiden, die aus dem Krankenhaus entlassen werden, zu Hause noch nicht zurecht kommen, so dass die nächste Krise und der nächste Krankenhausaufenthalt vorprogrammiert sind.

Mittlerweile gibt es in Hamburg insgesamt 27 Einrichtungen, denn das Prinzip der Gemeindepsychiatrie lässt die Menschen möglichst in ihren vertrauten Zusammenhängen. Die meisten kommen durchschnittlich vier bis fünf Jahre her. „Wir sind uns sicher, wenn es das nicht gäbe, wäre die Selbstmordrate höher“, sagt Thomas S.

So gerne sie auch hier sind, sie wollen nicht immer Psychiatrie–Patienten bleiben. So lange sie es aber sind, stört sie vor allem, dass über psychisch Kranke oft nur im Zusammenhang mit Mord und Vergewaltigung gesprochen wird. „Dabei sind die meisten von uns ganz sensible kleine Würmchen, die froh sind, wenn sie ihren Haushalt schaffen“, sagt Wiebke E.

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