: Marquis oder Der schöne Osten
Eine Kurzgeschichte von JAMAL TUSCHICK
Wir hofften viel und taten wenig. Wir wagten lieber, als wir uns besannen (Hölderlin).
Der Verein gegen Demokratie und Menschenrechte konstituiert sich am neunundzwanzigsten Oktober des Jahres zweitausend an einem Vormittag ohne Rücksicht auf das Bürgerliche Gesetzbuch. Für ihr Unternehmen finden die Gründungsmitglieder einen Platz an der Frankfurter Allee passend. Man tagt im Freien. Man hätte sich auch als Verein der Wetterfesten zusammenschließen können. Neben Regenvisagen Armutsgesichter. Soweit diese Leute behaust sind, heizen sie nur, damit die Rohre in ihren Wohnungen nicht platzen. Im Winter kommen sie nur dann aus ihren Mänteln, wenn sie nicht allein schlafen. Die Mäntel sind alt.
Taucher trägt schon Zeitungen in den Hosenbeinen, mehr aus Gewohnheit als der Kälte wegen. Bis neunzehnhundertfünfundachtzig war er ein großer Sprecher, der Kaffee kommen ließ, um ihn kalt werden zu lassen. Als Buchhandelsvertreter bereiste er die Republik. In seinem BMW fühlte er sich wie ein Rockstar auf Tournee. Er rollte in Fußgängerzonen und parkte verboten. Nachts lud er Frauen ein. Er träumt nun davon, Judo zu lernen. Aber feste Gewohnheiten und ein Phlegma, das nur in der Gruppe seiner (an Judo nicht interessierten) Freunde zu überwinden ist, zwingen Taucher auf einen Kurs, der keine Abweichung gestattet. In seiner Kammer betrachtet er Abbildungen von Würfen. Auf einer 2 Tatami großen Fläche, an einem Saum aus Ramsch, übt er solistische Wendungen des Leibes. Das sind langsame Ungeheuerlichkeiten. Halluzinationen leuchten auf den Spitzen seiner Paranoia. Diesen Erpressungen entweicht er in künstliche Behäbigkeit.
Kriecht die Angst auch dahin, sucht er Marquis. Marquis ist großartig. Er kann Taucher aufklappen und die Petersilie grundloser Zuversicht probat platzieren. Dann stören Taucher die Redner nicht mehr, die sich in ihm wie in einer Gaststätte unterhalten. Marquis lebt von einer Frau, auch darin äußert sich seine Bescheidenheit. Ebenso gut könnte er Profit aus fünf Frauen schlagen. Er will aber arm sein und an Ecken stehen, wo es wie Hechtsuppe zieht. Er liebt es, den Mantelkragen aufzurichten und am Dreck zu riechen, der im Stoff nistet. Glücklich ist er, wenn die Trauerränder unter seinen Nägeln in Irina Miakatos Mund baden.
Irina hat Gesang studiert und den Mädchennamen ihrer japanischen Mutter angenommen. Angeblich kann ihr georgischer Vater eine Verwandtschaft mit Stalin beweisen. Als Braut traf sie in Berlin ein. Nach einer Weile in der Wohnung eines Galeristen, der ihr die Ehe versprochen hatte, fand sie sich am Bahnhof, mit wenig mehr als genug Geld für eine Fahrkarte bis Prag. Während sie, in Erwartung eines Zuges, ihre Aussichten erwog, kamen ihre Zigaretten weg. Sie nahm das achselzuckend auf. Ihre schöne Resignation stiftete Leute dazu an, das Ausmaß ihrer Widerstandslosigkeit zu untersuchen. Am Ende der Untersuchung war Irina blau und pleite. Sie folgte einem, der ihr eine Putzstelle versprach. Er konnte sein Versprechen nicht halten. Bis das feststand, wehrte Irina Vorschläge ab, die darauf hinausliefen, vorläufig für Geld mit Männern zu schlafen. An einem Herbsttag von ausgesuchter Unwirtlichkeit verließ sie ihren Gastgeber. Außer den Sachen, die sie kleideten, besaß sie nichts. Schwerer wog, dass sie nichts mehr wollte. Für Selbstmord fehlte ihr die Energie. Ohne Überlegung steuerte sie in den Osten. Sie passierte grandios abgesoffene Baustellen. Von allen Aufschwüngen ausgeschlossen zu sein war ein annehmbarer Zustand. Sie deutete diese Beobachtug als Entdeckung einer Lebensform. So klug geworden, traf sie Marquis, der auf der windigsten Stelle des Alexanderplatzes Zusehen wie einen Beruf betrieb.
„Die Leute verwechseln die Mühe, die sie sich machen, mit dem Erfolg, den sie gern hätten“, erklärte er der struppigen Frau. Hinter ihrem angeschlagenen Auftritt vermutete er eine passable Erscheinung. Zumindest das. Er brachte sie in Palomas Riverboat. Dort erscheint am Gründungstag auch der Verein gegen Demokratie und Menschenrechte. Handstreichartig werden alle Sitzgelegenheiten mit Beschlag belegt. Die Mitglieder packen Getränke aus, bestellen etwas dazu, um ihr Bleiberecht zu sichern. Modergeruch breitet sich aus.
Dem pompösen Vereinsnamen zum Hohn dient die Assoziation keinem anderen Zweck, als über den schönen Osten zu reden. Das Wort stammt von Marquis. Er kam neunzehnhundertzweiundneunzig nach Berlin, um zu bemerken, dass es hier viel mehr Menschen als Möglichkeiten gibt. In der ersten Zeit erhielt er sich mit der Pflege von Tennisplätzen. Nachdem er am Rand der Mülltonnen einen Überlebenspfad ausgemacht hatte, entließ er sich selbst aus dem System regelmäßig minimaler Einkünfte. Marquis wartete neben Gaststätten, die von Leuten besucht wurden, die mit ihm zur Schule gegangen waren.
Im Sog eines Abiturientenexodus waren sie Anfang der Achtziger nach Berlin geraten. Sie erkannten Marquis nicht, wenn er sie um Kippen anging. Die Anwälte rauchten nicht mehr. Ihre Verachtung förderte Marquis’ Wohlsein. Er wähnte sich ihnen gegenüber in dem Vorteil, ein Schicksal zu haben. Kostbar schien ihm daran das Fatale. Eine Zeit lang übernachtete Marquis in einem Verschlag neben Palomas Riverboat. Für die freie Unterkunft erfüllte er Aufgaben eines Wachhunds. Die Verwandtschaft des kalabrischen Wirtes zeigt wenig Begeisterung für das Pennerkolloquium. Die festen Italiener quatschen selbst gern und wollen es dabei bewenden lassen. Sie verbringen ganze Tage im Palomas Riverboat. Ihre Autos stehen davor auf dem Bordstein . . . nie zu Fuß, nie unbewaffnet. In einer Stadt voller zwielichtiger Koalitionen halten sie auf verlorenem Posten aus.
Marquis entzieht sich dem gewittrigen Gespräch der Gegner von Demokratie und Menschenrechten. Er separiert sich an der Theke und sieht die BZ durch. Leander Hausmann wurde niedergeschlagen. Den Wirt schüttelt Husten, er fährt sich mit der offenen Hand über den Mund und greift wieder in Teig. Er ist milder als seine Leute, die ihm auf eine untergründige Weise zusetzen. Ihre Puttenköpfe tauchen mit satyrhaften Triumphgrimassen hinter der Theke auf. Marquis erinnert sich seines Hungers, der seit Jahren wie ein Tier mit ihm zusammenlebt. Man riecht es, wenn man Marquis nahe kommt.
Wie vor die Tür gefegt rumort der Verein plötzlich auf der Straße. Man stürmt eine Fläche zwischen Häusern . . . Schotter, niedergerissene Zäune, in Gestrüpp verhakt. Halbwüchsige Fußballspieler erschrecken vor den abgerissenen Männern. (Ihrer wehenden Mäntelschöße wegen erinnert der Anlauf an Szenen in italienischen Western.) Cengiz mäht einen Jungen nieder und bemächtigte sich des Balls. Aus Asien kam er nach Berlin. Er hat Länder zu Fuß durchquert. Verdruss und Enttäuschung sind in ihm zu einem Gebirge aufgewachsen. Er spielt Taucher an, der an Marquis abgibt. Marquis tritt den Ball gegen eine Wand. Der Ball springt zurück, wird verfehlt. Schon leidet das Interesse am Sport unter Atemnot. Man raucht auf dem Platz, kaum dass man mitbekommt, wie sich die Jungen den Ball zurückholen.
Das umgefallene Kind bleibt mit aufgeschlagenem Kopf liegen. Wie um zu prüfen, ob es noch lebt, tritt ihm Taucher in die Seite. Ältere Jungen sickern in die Situation. Mit großen Körpern verbauen sie eine Linie. Sie sind gemacht für Taten. Lauter geborene Zimmermänner. Deutsche, wie man sie dreißig Jahre lang nicht mehr gesehen hat.
Was sehen sie in den Träumern auf dem Platz? Nehmen sie mehr als die Witterung ihrer Nachlässigkeit auf? Sie wissen schon, dass man sie mutwillig ignoriert. Sie geben die Formation auf, um Taucher zu bedrängen. Er fällt neben das Kind.
Auf Taucher kommt es nicht an. Marquis betreibt den Rückzug als eiliges Geschäft. Andere sorgen für sich. Auf der Greifswalder Straße trifft man sich wieder. Die Stimmung war schon schlechter; zumal Getränke verfügbar sind. Man überfällt einen Kinderspielplatz, auf dem Neubürger in Prenzlauer Berg ihr Lebensgefühl ausstellen. In dieser Konstellation ist der Verein gegen Demokratie und Menschenrechte eine beachtliche Größe.
Cengiz wirkt rabiat und düster, zäh und unansprechbar mancher. Der Asphaltcharismatiker Marquis lässt sich ohnehin nicht mit Geringschätzung ausschalten. Mögen die Freunde, jeder für sich, im Zweifelsfall als Stinker durchgehen, in der Allianz mit dem Mulatten erscheinen sie wie freie Männer aus einer anderen Zeit. Man wirft mit Flaschenabfall, trifft auch mal wen oder was und gibt sich dabei so, als hätte man alles in allem miteinander zu viel zu schaffen, um für die Empörung der Mütter und Väter Aufmerksamkeit entwickeln zu können. Eine Frauenabordnung tritt gegen das Schild dieser vorgeblichen Selbstvergessenheit.
Cengiz hadert mit den Frauen in seiner Sprache. Sie wollen nicht zurückweichen, zu deutlich stehen ihnen die eigenen Lebensleistungen vor Augen. Im Kampf um Respektabilität haben sie die Phase der Niederlagen noch nicht erreicht. Noch sind sie erstmals verheiratet, die Hochzeiten sind wie Semesterantrittsfeten verlaufen. Sie glauben, das Institut der Ehe entspannter aufzufassen als ihre Eltern, auch die Freunde gehören dazu. Nun bauen sie Improvisationen ab.
Marquis zieht sich aus dem Vereinsleben zurück. Die Frauen machen ihm ein Unbehagen, an dem das Senkblei der Erinnerung zieht. Ein Kurzschluss verschmilzt sein Elend mit einer geografischen Bestimmung. Im Westen ist sein Leben in Stücke zerfallen. Marquis verfügt sich auf den Alexanderplatz. Er sieht den Menschen bei ihren Geschäften zu und bedenkt sie mit unausgesprochenen Bemerkungen. Ihn belästigt kein Zweifel an seiner Außerordentlichkeit. Wunderbar findet er, wie sie ins Leere geht. Wie tief fliegende Tornados überqueren Böen den Platz. Marquis spürt die Kälte am Mark seiner Knochen. Sie berührt ihn mit der Schärfe eines Zeichens. Natürlich sind die Elemente beseelt und Götter führen Regie. Marquis wähnt sich von ihrer Fürsorge erfasst, so wie ein Delegierter auf seinen Potentaten zählt. So hoch gestimmt, stellt er sich zu anderen Modernisierungsverlierern. Er reibt Schuppen aus dem Gesicht. Nicht mehr gültig ist der schmähliche Begriff, auf den Irina ihre Bedeutung für ihn gebracht hat.
Marquis fährt zur Friedrichstraße, er sucht die Erschütterung in der Menge. Seine Wahrnehmung gleicht einem Schüttelsieb, durch das, wie Sand, alles fällt, was ihn kalt lässt. Er wendet den Kopf ab vor glamourösen Bettlern, die Leute mit ihrem Begehren verblüfften. Sie können mit ernsthaften Beträgen rechnen. Den afrikanischen Hünen in wattierten Jacken möchte Marquis nicht auffallen.
Auf der Oranienburger hört er Irina. Du bist mein ganzes Herz. Sie klingt untröstlich. Wie sie ihrem Staat nachtrauert. Bei seiner Liquidierung ist eine ihrer Uhren stehen geblieben. Aus einem furiosen Damals wehen imaginäre Glücksbänder in die triste Gegenwart. Die Liste der Verluste ist ohne Ende. Das Publikum schiebt ungerührt an der Sängerin vorbei. Ein Mann ist immerhin stehen geblieben, dicht vor dem Brotkorb für die Münzen.
Er sieht nach freischaffendem Mittelstand aus. Irina entdeckt in seinem Interesse eine Chance, sie folgt ihm zum Tisch vor einer Wirtschaft. Bestimmt ist ihm das Bier zu kalt, das auf den Tisch kommt. Der Freier begrüßt die Erweiterung der Runde. Irinas angetäuschte Gesellschaftsfähigkeit und der halbenergische Versuch, sich von ihrem Liebhaber abzusetzen, unterhalten ihn.
Marquis wird eingeladen, an der Stehparty teilzunehmen. Er geht aber schon nur noch mit nachlassendem Erfolg gegen die Wirkung des Alkohols an. Er braucht feste Nahrung. Er kriegt Bier.
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