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Gysi-Double gegen alten „jungen Wilden“

taz geht wählen - die Serie zur Bundestagswahl am 18. September. Die 64 nordrhein-westfälischen Direktwahlkreise im Porträt. Wer kämpft um das Mandat? Wer sind die Außenseiter? Wer gewinnt? Heute: Neuss

Neuss?Der Wahlkreis 109, westlich von Düsseldorf und nördlich von Köln gelegen, beherbergt die Ansiedlungen Neuss, Dormagen, Rommerskirchen und Grevenbroich. Vor etwa 2.000 Jahren von den Römern gegründet, besticht Neuss vor allem durch seinen Geruch. Im Stadtzentrum wird der rheinische Weißkohl zu Sauerkraut veredelt. Im Umland wird dieses Aroma ergänzt durch Zwiebelfelder bis zum Horizont. Spätestens seit der zweiten Christianisierung 1948 regiert auf lokaler Ebene die CDU.Wer verteidigt den Wahlkreis?Kurt Bodewig (SPD), Verkehrsminister in der ersten rot-grünen Regierung, gewann 2002 den Wahlkreis. Damals, auf dem unglücklich fotografierten Wahlplakat, hielten ihn viele für Gregor Gysi und wählten ihn vielleicht deshalb. Gysis Gesicht zumindest kannte man, im Gegensatz zu dem des Ministers, aus dem Fernsehen. Mit seinen Aktivitäten im Wahlkreis konnte der 50-jährige beim Bürger auch nicht punkten. Kurz vor der Wahl versäumte er es, wegen der Einweihung einer Bahnunterführung im Dörfchen Nievenheim aus Berlin anzureisen. Statt ein rotes Bändchen zu durchschneiden, ließ er seine Rede fernmündlich und per Lautsprecher der wartenden Masse übermitteln. Die Lokalpresse schäumte vor Wut. Dagegen war sein Verhandlungsmissgeschick beim Toll-Collect-Vertrag regelrecht verzeihlich.Wer will den Wahlkreis?Na, er hat ihn ja schon fast. Über die Landesliste ist Hermann Gröhe (CDU) beim letzten Mal nach Berlin gekommen. Unter Kohl war er einer der „jungen Wilden“, stimmte später sogar gegen den Irakkrieg. Der 44-jährige ist Sprecher der CDU/CSU Bundestagsfraktion für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. Er schimpft in dieser Funktion ständig über die Regierungspolitik bezüglich Russland und China. Allerdings kann der vierfache Familienvater auch als Schützenbruder und Karnevalist rheinisch korrekt auftreten. Keine zwei Kilometer von der Bahnunterführung in Nievenheim entfernt, nimmt er auf dem Stüttger Hof mit Landwirt Karl Nacke die diesjährige Weizenernte in Augenschein und schimpft über grüne Bauernfeinde. Die großen Außenseiter?Gerhard Woitzik, Bundesvorsitzender der ältesten Partei Deutschlands, dem ZENTRUM, ergatterte bei der letzten Bundestagswahl 0,4 Prozent der Erststimmen. Gleich hinter der Bahnunterführung in Nievenheim wohnend, klagt der 77-jährige Erzkatholik gegen den Beschluss des Bundespräsidenten, das Parlament aufzulösen. Eigentlich unverständlich. Hat doch die Wahl Ratzingers zum Papst gezeigt, dass das Mittelalter wieder mehrheitsfähig ist.Die taz-Prognose?Beide Kandidaten werden Dank Landesliste in den Bundestag einziehen. Wer wie, ist noch unklar. Im Falle einer Großen Koalition hieße dies aus dem Wahlkreis der Sauerkrautfabriken: Zwei Supernasen für Angela Merkel. LUTZ DEBUS

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