: Sinti und Roma - vergessene Mitbürger
■ Sinti und Roma, Nicht–Sinti und Nicht–Roma trafen sich in der Evangelischen Akademie Mülheim zu einem Wochenendseminar / Die alltägliche Diskriminierung oder die Geschichte der Verfolgung reicht bis in die Gegenwart / Entschädigungsfrage und Sondererfassung in der Bundesdatei als Brennpunkte der Diskussion
Von Eva von Hase–Mihalik
Es ist nachts um halb eins. Der Saal ist leer. Der 20jährige Robert, Sinto, tänzelt singend mit dem Saalmikrofon in der Hand über die Bühne und intoniert einen Schlager von Katja Ebstein: „Theater, Theater“. Unten am Klavier improvisiert Peter eine Begleitung dazu. Jeanette und einige andere junge Sinti schauen zu. Die Songeinfälle von Robert gehen quer durch alle Tonarten und Musikrichtungen, sicher findet Peter in den Tasten die dazugehörigen Harmonien. Noten oder Musiktheorie hat er genausowenig gelernt wie Robert, der sich wie ein Show–Star auf der Bühne bewegt, auf der noch am Vormittag während einer Podiumsdiskussion erregte Redeschlachten geliefert wurden. Die Evangelische Akademie Mülheim hatte eingeladen in ihr schloßartiges Gebäude mit Park, das einst einem Hugo Stinnes– Sohn gehörte, zu einem Wochenendseminar Anfang Juli, das es in dieser Art noch nicht gegeben hatte. Unter dem Titel „Sinti und Roma - vergessene Mitbürger“ diskutieren etwa 100 Teilnehmer, Sinti und „Nicht–Sinti“, zwei Tage lang über das heutige Leben, die Verfolgung und die kulturelle und nationale Identität von Sinti und Roma. Außer vielen Sinti sind Lehrer, Rentner, Sozialarbeiter, Journalisten und ein Kriminalbeamter gekommen. Eine Frau, nach eigenem Bekunden die Tochter eines alten Nazi, erzählt, daß sie gekommen ist, sich konkret mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Ohnmächtige Wut Es ist beklemmend, was von den Sinti berichtet wird. Alle verloren Angehörige in den Konzentrationslagern, fast alle erlitten selbst unvorstellbare Qualen in den Lagern. Diejenigen, die überlebten und aus den Lagern entkommen konnten, wurden nur in wenigen Fällen entschädigt. Bis 1964 galt, daß Sinti oder Roma nicht aus „rassischen“, sondern aus „kriminalpräventiven Gründen“, als „Asoziale“ verfolgt wurden. All die Beamten, die im Dritten Reich mit der Zigeunerverfolgung beauftragt waren, sind nach dem Krieg im Amt geblieben. Teilweise saßen dieselben den Sinti als „Gutachter“ in Entschädigungsverfahren gegenüber. Wie diese Verfahren ausgingen und die betroffenen Sinti oder Roma dadurch gedemütigt wurden, kann sich jeder ausmalen. Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats deutscher Sinti und Roma , 1946 geboren, beschreibt, was die Diskriminierung für ihn persönlich bedeutet. „Für mich war es furchtbar mitanzusehen, wie die Situation meiner Eltern nach 1945 bestellt war. Aus meiner Familie sind 13 Personen in den verschiedenen Konzentrationslagern ermordet worden, und nach 1945 bin ich in dieser Situation der Erniedrigung und der Fortsetzung der Rassenideologie uns gegenüber in ohnmächtiger Wut aufgewachsen.“ Nicht zuletzt diese Erfahrungen machten es ihm damals unmöglich, sich als Deutscher zu identifizieren, obwohl die Familie seit Generationen in Deutschland lebte. Gleichzeitig durfte man aber, wenn man in der Gesellschaft gleichberechtigt anerkannt werden wollte, nicht laut sagen, daß man Sinto war. „So lebte ich über Jahre hinweg mit der Identität eines Juden, mit denen es eine historische Schicksalsverbundenheit gegeben hat. Das war natürlich keine tragfähige Identität für mich, weil ich immer darunter gelitten habe, meine tatsächliche Geschichte verleugnen zu müssen. Dieser Zustand hielt bis 1979 an, als ich mich entschloß, mit meiner Identität als Sinto bewußt in die Öffentlichkeit zu gehen, um mit anderen Leuten die Bürgerrechtsarbeit aufzunehmen.“ Der Beginn der Bürgerrechtsarbeit war für viele Sinti ein wichtiger Schritt, aus der gebrochenen kulturellen Identität herauszufinden und ein neues Selbstbewußtsein aufzubauen. Kulturelle versus nationale Identität „Was zeichnet Euch denn überhaupt noch als Sinti aus?“, fragt eine Frau in einem Privatgespräch, die die Aussage des Zentralrats verwirrt hat, daß ungefähr 98 Prozent der in der Bundesrepublik lebenden Sinti und Roma einen festen Wohnsitz haben, keinen angeborenen Wandertrieb besitzen und vorwiegend aus beruflichen Zwecken reisen, um Handel zu treiben. Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort. Klar ist, das die Sprache Romanes, die seit Jahrhunderten mündlich überliefert wird, der Eckpfeiler des kulturellen Zusammenhalts ist, ähnlich wie die Musik–Tradition. Aber da hören die klaren Aussagen aus verschiedenen Gründen schon auf. Zum einen gibt es eine Scheu von Sinti über Sitten oder Traditionen zu reden, weil deren Kenntnis von den Nationalsozialisten genutzt wurde, um sich ins Vertrauen der Sinti einzuschleichen. So wurde zum Beispiel die Funktion des „Rechtssprechers“ unter den Sinti von den Nazis gezielt genutzt. Dieser wurde als „Autoritätsperson“, ohne daß er wußte wofür, von den Nazis beauftragt, eine Liste der „reinrassigen Sinti“ zu erstellen. Später kamen dann alle nicht „reinrassigen Sinti“ ins KZ. Noch später folgten auch die „reinrassigen“. Aber, was eigentlich noch typisch ist für Sinti oder Roma, neben ihrer Sprache und der Musikrichtung, die sie bevorzugt spielen, ist auch unter den Generationen der Sinti umstritten. Sicher sieht es der ältere Sinto als typisch und selbstverständlich an, daß bei ihnen Frauen keine Hosen tragen und jüngere Mädchen nur in Begleitung eines Bruders oder Cou sins ausgehen. Für die 18jährige Jeanette machen diese Normen jedoch wenig Sinn. Sie kann auch der „Zigeunermusik“ nicht viel abgewinnen und geht lieber in die Disco. Unterschiede zwischen sich und anderen jungen Mädchen sieht sie kaum, auch wenn sie das nicht so offen in der Familie vertreten würde. Der 20jährige Peter dagegen nennt doch einiges, was für ihn das „Sinto–Sein“ ausmacht. Zum Beispiel, im Sommer mit dem Wohnwagen unterwegs zu sein, die Verbundenheit zur Natur und die Fähigkeit, Romantik und Lebenslust als wichtige Bestandteile des eigenen Daseins ausdrücken zu können. „Aber halt mal“, unterbricht ihn ein „Nicht– Sinto“, „das ist doch nicht typisch für Sinti, das ist doch bei mir und vielen anderen jungen Leuten genauso, daß wir gern unterwegs sein wollen, nicht immer am selben Fleck mit denselben Leuten sein wollen, daß wir keine Lust haben, langweilige Büro– oder Fabrik–Karrieren anzustreben.“ Auch unter Sinti und Roma gibt es keine Einigung darüber, was typisch „Sinti“ ist, eher darüber, daß auch da nichts „angeboren“, sondern vielmehr aus Tradition und Gewohnheit herrührt. Und wie überall in der Gesellschaft sind auch bei Sinti und Roma die traditionellen Werte einem Wandel unterzogen. Gerade wegen des drohenden Verlustes einer kulturellen Identität wird auch vom Zentralrat die Bedeutung eines zu schaffenden Kulturzentrums unterstrichen, in dem Geschichte, Kultur und Tradition dokumentiert und ständig weitervermittelt werden können und junge Sinti z.B. eine spezielle Ausbildung in traditionellen Berufen erfahren können. Gleichzeitig fühlen sich die meisten Sinti aber auch als Deutsche. „Nach dem Krieg sind wir aus den Lagern in Polen nach Deutschland zurückgekehrt. Trotz allem. Wo hätten wir sonst hingehen sollen, wir sind doch Deutsche“, erklärt eine ältere Sintiza. Die Podiumsdiskussion mit Politikern aus Nordrhein–Westfalen ernüchtert. Trotz aller Beteuerungen, gegen Diskriminierungen zu sein, betrachten die Anwesenden - bis auf Antje Vollmer (Die Grünen) - Sinti und Roma eher als Problemfall. Symptomatisch dafür die Aussage Innenminister Schnoors: „Angesichts unserer eigenen Geschichte und was wir darin zu verantworten haben, müssen wir Geduld miteinander haben. Wir dürfen nicht Geduld von der anderen Seite fordern. Wir, die wir verantwortlich sind für Innere Sicherheit, müssen nicht Geduld von Sinti und Roma fordern, sondern müssen selber ein Stück mehr Geduld bringen, als wir vielleicht gegenüber anderen aufbringen würden.“ Wieder sind es unversehens die Sinti, die Probleme machen, mit denen man Geduld haben muß. Die eigene unbewältigte Vergangenheit und Schuld, die nach einer schnellen und unbürokratischen Rentenregelung für Sinti und Roma geradezu schreit, sind kaum Gegenstand der Debatte. Und dies obwohl die meisten älteren Sinti immer noch demütigende Gänge zum Sozialamt machen müssen und bis heute keine angemessene Entschädigung erhalten haben. Die Sondererfassung ist geblieben Nach wie vor betreibt die Polizei eine rassistische Sondererfassung von Sinti und Roma - heute nicht mehr als „Zigeuner, Landfahrer oder ZN für Zigeunername“, sondern als „HWAO“: „Häufig wechselnder Aufenthaltsort“. Was der Zentralrat seit Jahren kritisiert, wird von Schnoor bestätigt. Bisher war von Behördenvertretern immer geleugnet worden, daß HWAO ein Synonym für die früheren Bezeichnungen für „Zigeuner“ sei. Dazu Schnoor: „Aufgrund meiner Initiative wurde bundesweit die Bezeichnung ZN aus den Dateien gelöscht. Daraufhin wurde - da haben Sie völlig recht - häufig wechselnder Aufenthaltsort eingeführt.“ Dieses Kürzel sei nun in der Bundesdatei von Wiesbaden gespeichert und könne durch die Innenministerkonferenz gestrichen werden. Auf scharfen Protest stößt Schnoor, als er auf die Situation der obdachlosen und seit Jahren in Europa hin– und hergestoßenen Roma–Familien zu sprechen kommt, die sich seit Anfang des Jahres in Köln an der Domplatte niedergelassen haben. Seiner Ansicht nach müssen sie als Nichtdeutsche nach dem Ausländerrecht behandelt werden - auch vor allem mit Rücksicht auf die deutschen Sinti, die sich in der Bundesrepublik inzwischen integriert haben und sonst mit allen Vorfällen im Roma–Lager in Köln identifiziert würden. Romani Rose protestiert energisch gegen diese „Spaltungsversuche“. „Hier wird gezielt eine Gruppe gegen die andere ausgespielt, und das lassen wir nicht zu. Was im Dritten Reich mit den Westjuden und Ostjuden passiert ist, kennen wir. Hinterher sind sie alle in der Gaskammer ermordet worden.“ Gegen Schluß des Seminars entspannt sich die Situation, als im Park bei Sonnenschein das Titi– Winterstein–Quintett spielt, mit einer musikalischen Bandbreite von deutschem Zigeunerjazz und französischen Walzern bis zu ungarischen Geigenfetzern. Sinti aus der Pfalz stellen Bildhauerarbeiten, selbstgeflochtene Weidenkörbe und Schmuck aus. Persönliche Gespräche am Rande des Seminars entstehen. Der Vorschlag, ein solches Treffen nächstes Jahr zu wiederholen und dabei den Schwerpunkt auf Kunst und Kultur von Sinti und Roma zu legen, also auch Theatergruppen neben Musikgruppen einzuladen, stößt auf uneingeschränkte Zustimmung. Durch Entpolitisierung zur Harmonisierung? Bestimmt nicht, denn daß die alltägliche Diskriminierung Fakt ist, wurde während des Treffens nicht zuletzt durch die Diskussionen mit den Politikern deutlich.
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