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Binsen und Kamille wachsen im trockenen See

Die erste Generation von Talsperren ist altersschwach / 40 Staumauern werden überprüft und „ertüchtigt“ / Beispiel Eder-Stausee / Angst auf den Dörfern: Wenn die Mauer bricht / Strom aus Wasserkraft: Die Preag-Turbinen sind 73 Jahre alt / Erinnerungen an Kriegszeiten  ■  Aus Waldeck Michael Weisfeld

Der Friedhof eines vor sieben Jahrzehnten versunkenen Dorfes taucht in diesen Wochen wieder auf. Der Eder-Stausee im nordhessischen Landkreis Waldeck gibt die Gräber frei. Zum Vorschein kommen grobe Betonplatten, mit denen die Gräber vor 74 Jahren verschlossen wurden. Nur noch ein Drittel der üblichen Wassermenge enthält der See mitten in der Sommerferienzeit. Der Grund: Seine Staumauer ist alterschwach. Als die Talsperre 1914 fertiggestellt wurde, war sie die größte im Deutschen Reich. Sie schützte die tiefer liegenden Täler vor Hochwasser, indem sie das Wasser der Schneeschmelze im Sauerland aufnahm. In trockenen Sommern speiste sie die Weser und den Mittellandkanal, damit die Schiffe dort immer genug Wasser unter dem Kiel hatten. Und ein kleines Kraftwerk unter der Mauer erzeugte auch etwas Strom. Nach dem gleichen Muster wie die Eder-Talsperre entstanden damals etwa 40 Staumauern. Alle diese Bauwerke genügen den heutigen Sicherheitsstandarts nicht mehr und müssen saniert werden. Mehrere Stauseen sind ebenso trocken wie der Edersee. Zum Beispiel die benachbarte Diemel Talsperre. Die Fuelbecke-und Heilenbecke-Talsperren im Sauerland, aus denen Trinkwasser für das Ruhrgebiet entnommen wird, sind ganz leer. Der Ennepe-Stausee ist weit abgesenkt. Die Sanierungsarbeiten sind in Gang. Die Möhnetalsperre ist schon in den siebziger Jahren „ertüchtigt“ worden.

Was die Eder-Talsperre so mürbe macht, ist das Seewasser, das in die Fugen dringt und - ebenso gefährlich - in den felsigen Untergrund. Dadurch entsteht ein Auftrieb, die Mauer hebt und bewegt sich, sie „schwimmt“, wie die Fachleute sagen. Wie viel Wasser eindringt, wie stark die Mauer schwimmt, das wird jetzt mit Sensoren im Inneren des mürben Bauwerks gemessen. Und noch was hat die Aufsichtsbehörde veranlaßt: Auf halber Höhe wurden acht Löcher in die Mauer gebrochen. Im Herbst dieses Jahres sollen dort Schieber eingebaut und der See dann wieder aufgestaut werden. Durch die acht Löcher können jederzeit großen Mengen Wasser aus dem See abgelassen werden, wenn die betagte Mauer mal schnell entlastet werden muß. Insbesondere sollen die acht Notauslässe verhindern, daß der See zur Zeit der Schneeschmelze über die Krone der Talsperre läuft, wie das bisher geschehen ist. Wie die Mauer dann endgültig saniert wird, will die Behörde erst Anfang der neunziger Jahre entscheiden. Bis dahin soll die Standfestigkeit mit zahlreichen Messungen getestet werden.

Als im vergangenen Jahr bekannt wurde, daß die Talsperre nicht mehr sicher ist, wurden in den Dörfern im unteren Edertal Erinnerungen wach. Während des zweiten Weltkrieges hatten britische Flugzeuge die Staumauer bombadiert. In einer sieben Meter hohen Flutwelle stürzten die Wassermassen des Sees talabwärts.

Emmi de Bordes war damals acht Jahre alt. „Auf einmal rauschte das Wasser ganz furchtbar“, schrieb sie nach dem Krieg in einem Schulaufsatz. „Am anderen Morgen war von unserem Haus nichts mehr zu sehen. Nur ein tiefes Loch. Überall lag das Vieh tot.“ Heute glaubt sie manchmal, das schreckliche Rauschen wieder zu hören. Besonders im Frühjahr bei der Schneeschmelze.

Die Leute aus den Dörfern unterhalb des Sees verlangen, daß die Staumauer gründlich saniert wird. Am besten mit einer „Vorsatzschale“ oder einer zweiten, neuen Mauer, die das altersschwache Bauwerk vorm Druck der Wassermassen schützt. Allerdings: Wegen der Bauarbeiten würde der See dann drei bis vier Jahre völlig leer bleiben. Der Tourismus, entscheidender Wirtschaftszweig in den Gemeinden, würde zusammenbrechen.

Früher wohnten Waldarbeiter und Kleinbauern in Bringhausen. Von Wald und Feld leben heute nur noch einzelne. Die Gemarkung auf dem seeseitigen Hängen ist an wohlhabende Leute aus den umliegenden Städten verkauft und dicht mit Wochenend-Villen bebaut. Wohnwagen-Kolonien verschandeln die Seeufer. An sonnigen Tagen ist es mitunter schwer, zwischen Surfbrettern und Segelbooten einen Zugang zum Wasser zu finden. Auf den Uferfelsen sitzen die Angler dicht bei. Die Einheimischen leben von den Fremden: Sie vermieten Campingplätze, betreiben Imbißbuden, ein Bauer fährt mit seinem Güllewagen die Scheiße aus den Sickergruben der Wochenendhäuser in die Kläranlage. Wer in diesem Geschäft nicht Fuß fassen konnte, mußte auswärts Arbeit suchen. Doch seit der See den Besuchern seinen Grund zeigt, machen die Ausflügler sich rar: An den meisten Wochenendhäusern gehen die Jalousien seit Monaten nicht mehr hoch, und von den riesigen Steganlagen sind viele Segler an andere Gewässer ausgewichen. Leni Meißner, die auf einer ehemaligen Viehweide ihres Schwiegervaters einen Zeltplatz mit Kneipe betreibt: „Wenn wirklich eine neue Mauer gebaut wird, und der See drei Jahre leer bleibt, dann können wir hier dichtmachen.“ Aus den Fenster ihres Lokals kann man weit über den trockenen Seegrund blicken. Der ausgeruhte Boden, seit über 70 Jahren nicht mehr landwirtschaftlich genutzt, ist mit schnell wachsender Flora begrünt: Wegerich, Binsen, Sauerampfer und riesige Stauden wilder Kamille. Die Kraftwerke an den Staumauern konnten nie mehr als fünf Prozent der Stromerzeugung der Bundesrepublik liefern. Das lag nicht nur an der Natur: Die Turbinen in der Edertalsperre stammen noch aus dem Jahr 1915. Doch wenn jetzt eine neue Staumauer gebaut wird, dann kommen auch neue Turbinen hinein. Das hat die Preußen- Elektra, die 75 Prozent ihres Stroms aus Atomkraft gewinnt, versprochen.

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