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SZENE, SLUMS UND SPEKULANTEN

■ Die Lower East Side in New York

This land is ours. Property of the people of the Lower East Side. Not for sale“, steht auf dem Schild. Es hängt an einem der fünfstöckigen Häuser aus braunem Backstein, an denen die Feuerleitern im Zick-Zack an den Außenwänden entlang laufen. Man kennt sie aus James-Cagney-Filmen.

Die Mietskasernen, die „tenements“, stehen in der Lower East Side, Manhattan, New York, USA. Für diesen Stadtteil sind sie charakteristisch, sie prägen sein Aussehen und Image, in Geschichte und Gegenwart.

Die Lower East Side ist das Gebiet rechts und links der Bowery, zwischen Canal Street und Houston Street, um die 1st Avenue und die Avenues A-D, wegen ihrer Buchstabenkennzeichnung heute auch als Alphabet-City bekannt. Das Gebäude, vor dem wir stehen, spiegelt die wechselvolle Geschichte dieses Stadtteils. Im Moment sind Türen und Fenster im Erdgeschoß zugemauert, weiter oben mit Holzbrettern vernagelt. Das eingangs zitierte Schild, das am Gitter auf dem ersten Treppenabsatz angebracht ist, strömt den Optimismus der Menschen aus, die das Haus instandbesetzt haben.

New York ist ein Alptraum für Wohnungssuchende. Im angrenzenden East Village kostet ein 1-Zimmer-Appartment ohne Fenster 1.000 Dollar Miete im Monat. So ist es verständlich, daß viele Menschen auf der Suche nach billigem Wohnraum sind. Verslumte Mietskasernen kommen ihnen da gerade recht, sie ziehen ein und fangen an zu renovieren.

Die realen Machtverhältnisse werden die Hoffnungen der Hausbesetzer wohl leider bald als Utopie erweisen. Nehmen wir das Beispiel George Washington, General und erster US -Präsident: Der hat einen Nobelsitz auf Cherry Hill am südlichen Ende des East River, er genießt Aussicht, Szenerie, Luxus. Irgendwann einmal werden ihm die Steuern, die er zu zahlen hat, zu hoch, Renovierungskosten tun ein übriges. Horden plebejischer Einwanderer okkupieren zunehmend die Gegend. Washington und die Geldaristokratie ziehen nach Norden, raus ins Grüne. Als Ausgleich für seine Steuerschulden fällt das Haus an die Stadt, die nichts für seine Erhaltung tut. Später jedoch, als Wohnraum immer knapper wird, weil die Masseneinwanderung einem ersten Höhepunkt zustrebt, können Bauspekulanten diese verslumten Häuser für relativ wenig Geld erwerben und machen daraus Mietskasernen. Die Villa wird zum „tenement“. Vom Keller bis zum Dach wird sie mit Menschen vollgestopft, und jeder mögliche Cent wird ihnen als Miete abgeknöpft. Reparaturen werden nicht durchgeführt. Den Schlußpunkt setzt ein gekaufter Brandstifter, damit die Hausbesitzer auch noch die Versicherungssumme kassieren können.

So ging das, und so geht das. Die Nachbarschaftsinitiativen versuchen nun, diesen Kreislauf der Bauspekulation, des Mietwuchers und der inhumanen Wohnbedingungen zu unterbrechen. Militant verkündet ein Transparent, das quer über die Straße gespannt ist: „Speculators keep off!“ Mein Begleiter, Patrick Wilkinson von der 'Maisonneuve Press‘, beurteilt die Erfolgsaussichten der Bürgerinitiativen eher negativ. Das Geldproblem wird ihnen den Hals zuschnüren, denn die Renovierungskosten für Gebäude, die Jahrzehnte bewußt vernachlässigt wurden, sind enorm hoch, und Leute, die in der Lower East Side wohnen, verdienen normalerweise wenig. Wenn die Initiativen dann keine Zuschüsse vom Staat bekommen, müssen sie auf dem privaten Markt Geld borgen. Und da sind sie wieder, die Krakenarme der Banken, Baugesellschaften und Immobilienmakler. Patrick erzählt, daß es neben den Nachbarschaftsselbsthilfegruppen bereits mehrere Initiativen von „young urban professionals“ gibt, von Yuppies, die seit geraumer Zeit als positives Ideal im Munde aller Leistungs-, Konkurrenz- und Marktdenker sind. So sind die Chancen, daß es hier erschwinglichen, menschenwürdigen Wohnraum geben wird, tatsächlich gering.

Heute liegt der soziale Widerspruch auf der Straße. Bums, Penner und Wermutbrüder, auf der Suche nach dem Geld für die nächste Pulle Alk, beherrschen die Szene genauso wie die modebewußten Yuppies und Galleristen, die beim Modefrisör ihren nächsten geilen Business-Deal abwickeln. Die Slumruine, Schlupfwinkel für Drogensüchtige, Kleinkriminelle und am Wohlfahrtsstaat Gestrandete, steht neben dem neu herausgeputzten japanischen, afghanischen, französischen Restaurant, wo Banker, Makler und andere Geschäftsleute zusammenkommen. Natürlich hat auch der Baguette- und Croissant-Shop, dieses Sinnbild der Schickeria, längst Einzug gehalten. Wer von dieser weißen, sonnengebräunten, oberflächlichen und lärmenden Klientel einen Eindruck gewinnen will, der gehe abends in McSorley's Old Ale House in der 7. Straße. Der Laden hat echtes historisches Flair, alte Holzeinrichtung, alte Zapfhähne, alte Fotos an den Wänden, Sägespäne auf dem Boden, sogar die Pißbecken auf dem Männerklo sind von 1890.

Patrick hat eine klare und exponierte Meinung zur alternativen Kulturszene in der Lower East Side. „Ich glaube nicht, daß sich da etwas Neues und Aufregendes entwickelt, jedenfalls nichts, woran wir im Zusammenhang mit den fünfziger und sechziger Jahren und Greenwich Village denken.“ Die Leute, die alternative Kultur in der Lower East Side betreiben, haben sehr schnell, sehr viel von Greenwich Village, so wie es heute ist, gelernt, und dabei geht's um making money. Die Leute hier sind nur etwas jünger und haben deswegen einen anderen musikalischen und künstlerischen Geschmack, aber es ist nichts wesentlich Alternatives zur herrschenden Kultur. Die Faktoren, die die Kunst-, Galerie- und Musikszene in der Lower East Side bestimmen, sind dieselben wie im Rest der USA. Vielleicht lebt New Yorks künstlerische Szene intensiver, kündigen sich neue Entwicklungen eruptiver an und vollziehen sich dichter. Hier fängt aber auch die Kommerzialisierung an. „Es gibt in der Lower East Side keine Bedingungen, die alternative Kultur fördern“, sagt Patrick. Warum? Kunst und Musik sind wohl im Augenblick nicht die geeigneten Widerstandsformen gegen die enorme politische Reaktion, und was es an subversiver Kunst gibt, wird kaum in Galerien zu sehen sein, die sind normalerweise nicht in den Händen alternativer Künstler, wenn dieser Begriff mehr als ein Etikett sein soll.

Tatsächlch alternative, das heißt nicht assimilierte Kultur, gibt es allerdings auch: es sind die ethnischen Kulturen der Einwanderer, früher wie heute. Bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunders war in der Lower East Side auch das deutsche Viertel. Die ärmeren Deutschen lebten in der Nähe des East River. Handwerksbetriebe, Geschäfte, Kneipen und Läden befanden sich um die Bowery herum. Die Kirche „Church of the Most Holy Redeemer“ war Mittelpunkt der deutschen Community. Heute ist sie Zentrum einer puertoricanischen Gemeinde.

Entlang der 1st Avenue findet man Reminiszenzen an Osteuropa: ukrainisches Essen auf den Speisekarten der Restaurants, Unterhaltungen auf Polnisch in den Kneipen, Tafeln in kyrillischer Schrift an manchen Häusern. So sind heute noch in den Straßen Spuren zu finden, wie eine ethnische Einwanderergruppe die andere ablöste, ihre Kultur mitbrachte und in einem Generationen dauernden Akkulturationsprozeß Elemente der herrschenden Kultur aufnahm, aber diese auch veränderte.

Die Lower East Side war immer ein armes Viertel, immer ein Slumgebiet, und heute gibt es immer noch viele verslumte Straßenzüge. Die Industrie, die am East River und hier angesiedelt ist, brauchte ein großes Reservoir an billigen Arbeitskräften. Das waren im 19. Jahrhundert zuerst Iren und Deutsche, dann osteuropäische Juden und Italiener, heute Chinesen und Hispanics, spanisch-sprechende Zuwanderer aus Mittel- und Südamerika und der Karibik. Ursprünglich wurden hier Sümpfe mit Erde zugeschüttet, um die Gegend für die Besiedlung reif zu machen. Heute gibt es immer noch Überflutungen, das Abwassersystem funktioniert nicht richtig, der Häuserbestand ist sehr alt. Weil er durchgängig als Wohnraum für arme Einwanderer benötigt wurde, gab es nie eine Substanzerneuerung von Grund auf. Deswegen findet man noch viele der typischen Gebäude, die zum Teil um 1870 gebaut wurden. Viele davon sind seit den 1930ern verlassen eine wahre Fundgrube für Historiker.

Ich habe dann doch noch „alternative Kultur“ aufgespürt, ein großes Wandgemälde hinter einem öffentlichen Basketballplatz. Die abblätternde Farbe und sein Inhalt verweisen auf seine vermutliche Genese in den Sechzigern. Im Zentrum des Bildes steht die Freiheitsstatue, der die Kette gesellschaftlicher Mißstände wie Rassismus, Armut, Sexismus angelegt ist. Eingerahmt wird sie von Szenen aus dem Alltagsleben und Bildnissen von Frauen. Das Kunstwerk ist ein Aufruf an die Menschen, sich selbst aus der Dunkelheit zu befreien: „Unsere Ketten wurden entfernt, aber wir sind immer noch in der Dunkelheit. Die Tür steht uns offen. Wenn wir aufsteigen, gibt es nichts, was uns zurückhalten kann, außer uns selbst“, steht in einem aufgeschlagenen Buch, das eine der Frauen hält. Das Gemälde ist auch eine Homage an große Frauen aus der Geschichte, auf der linken Buchseite werden unter anderem Angela Davis, Billie Holiday, Rosa Luxemburg, Romana Para aufgeführt.

Das, was die Szene der Sechziger ausgezeichnet hat, die Verbindung von Politik, Kunst, Musik, wird in diesem Bild deutlich. Heute, scheint mir, fehlt allzu oft das politische Element. Vielleicht ist es da ein hoffnungsvolles Zeichen erwachender politischer Sensivität, daß fast alle Bezirke der Lower East Side in den Vorwahlen der Demokratischen Partei für Jesse Jackson gestimmt haben.

Diethelm Knauf

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