: Der Zug
Zur Ausreise der Flüchtlinge aus der Prager Botschaft ■ K O M M E N T A R E
Eine Nacht der Symbole: der Außenminister, der die Flüchtlinge „heim„holt, die große Erlösung, durchzogen von den Rufen „Auf nach Deutschland!“ Dabei droht ein Symbol übersehen zu werden, das der DDR: die Reichsbahnzüge, die Fahrt im geschlossenen Zug durchs ganze eigene Land hindurch nach draußen. Fast rührend-verbissen bestand die DDR darauf, die Flüchtlinge unmittelbar aus den Händen der eigenen Behörden zu entlassen. Letzte Geste jener machtgeschützten Anerkennungsneurose.
Auch wenn sich die DDR vor allem vor dem Gorbatschow-Besuch Luft geschafft hat, hat die Freilassung der Botschaftsflüchtlinge die Situation noch einmal verschärft. Mauern an die Ostgrenzen sind nicht denkbar; neue Botschaftsflüchtlinge sind schon da. Vor allem aber hat die DDR das gemacht, was sie Ungarn vorgeworfen hat. Ungarn hat mit dem gleichen Argument wie jetzt die DDR - nämlich aus „humanitären“ Gründen - die Verträge mit der DDR seinerzeit vorübergehend suspendiert. Auch bei betonter Einmaligkeit war es in Prag eine vorweggenommene Ausreiseerleichterung. Wenn die Ausreise erschwert bleibt, dann wird die akzeptierte Erpreßbarkeit durch die Botschaftsflüchtlinge notwendigerweise weitere Erpressungen zeitigen - verbunden mit der zunehmenden außenpolitischen Isolierung. Dann werden vor allem immer mehr diejenigen, die auf Veränderungen nicht mehr warten wollen und die doch gerade zum Warten bewegt werden müßten, sich beeilen, Herz und Rucksack über die Botschaftszäune zu werfen.
Dabei ist - nüchtern betrachtet - die objektive Lage der DDR-Regierung fast vorteilhaft. Angesichts der Krise des realen Sozialismus durch die Flüchtlingswelle kann die DDR zumindest eines feststellen: Das Interesse an der Stabilität des Systems ist hüben wie drüben außerordentlich groß. Es ist, so scheint es, auf jeden Fall größer als bei der DDR -Bevölkerung selbst. Die Bundesregierung empfindet eine Entstabilisierung der DDR durchaus als Gefahr für ihre profitable Ost- und Europapolitik und würde sich eine stabile DDR was kosten lassen. Eine innere Reform der DDR könnte die ertragreichste Devisenquelle werden.
Und einmal in aller Naivität weitergedacht. Wenn die DDR -Regierung Reformsignale setzen, die Ausreise erleichtern und diesen Prozeß Schritt für Schritt mit finanziellen Leistungen aus der Bundesrepublik verbinden würde, dann würde die Ausländerfeindschaft der Westdeutschen innerdeutsch werden. Den gewieften Schlangestehern aus der DDR würde auf den Behördenfluren offener Haß entgegenschlagen. Hier abkassieren und gleichzeitig Milliarden für die DDR, nein danke. Die Mehrheit der Westdeutschen wäre schnell bereit, die Staatsbürgerschaft der DDR anzuerkennen. Viele der Auswanderer würden, um die ernüchternde Westerfahrung reicher, den Zug nach Leipzig besteigen, zumal sie die Sicherheit hätten zurückzukehren. Träume. Bis jetzt aber träumen offenbar noch die verkorksten Materialisten von einer Gesellschaft, in der am Ende die Stasi sich selbst beschattet.
Klaus Hartung
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