: Versöhnungsimperialismus
Bundeskanzler Kohl besteht auf seiner Reise nach Annaberg in Polen ■ K O M M E N T A R E
Ein neuer Fall des Kohlschen Versöhnungsimperialismus: Immer müssen es Schlachtfelder oder Soldatenfriedhöfe sein, auf denen der oberste Repräsentant bundesrepublikanischer Wirtschaftsmacht die Schwitzhand der Verständigung herumreichen will: Verdun, Bitburg und jetzt der Annaberg in Polen. Zu Bitburg kann man sagen, daß es am Ende ein Symbol deutscher Selbstentlarvung war; Bitburg zeigte, daß hierzulande die gefallenen Angehörigen der Waffen-SS immer noch mehr zählen als die ermordeten Juden. Die teutonische Verbissenheit, mit der der Kanzler auf seiner Teilnahme am Gottesdienst von Annaberg beharrt, ist zwar auch selbstentlarvend. Nur: dieser Gesichtspunkt spielt hier keine Rolle.
Annaberg ist ein Symbol der polnischen Angst um die Westgrenze, ist ein Symbol des deutschen Revanchismus. Das weiß der Kanzler von seinen Berufsschlesiern ganz genau. Die Version des Bundeskanzleramtes, wonach der Christ Kohl, unauffällig das deutsche Gesangsbuch in der Hand, lediglich am Gottesdienst teilnehmen wolle, muß in polnischen Ohren als eine geradezu provozierende Dummdreistigkeit ankommen. Gerade die deutschen Gottesdienste sind es, die in der dortigen Gegend alte Ängste erwecken, Ängste, die von den Aktivisten der deutschen Freundschaftskreise auch bewußt geschürt werden. Das als „Geste der Versöhnung“ auszugeben, ist eben so überzeugend wie der Versuch des sprichwörtlichen Elefanten im Porzellanladen, der die Scherben als Geste seiner Vorliebe für „Meißen“ verstanden wissen will. Die Scherben jedenfalls häufen sich schon.
Man fragt sich hilflos nach dem Sinn dieses Kohlschen Manövers. Die Sorge um die Schlesierstimmen, den unangenehmsten Untermietern im europäischen Haus, erklärt das nicht. Nachdem er wegen Waigels Vorstoß zu den Grenzen von 1937 den Polenbesuch vertagen mußte, hat Kohl noch jüngst die Reise dramatisch aufgewertet: als Zeichen für Solidarität mit dem Demokratisierungsprozeß in Osteuropa. Die deutsch-polnische Verständigunga sollte gar den historischen Rang der deutsch-französischen Freundschaft erhalten.
Nun steht diese historische Polenreise wieder zur Debatte. Die Regierung Mazowiecki gerät in den innenpolitisch tödlichen Verdacht, polnische Sensibilität für deutsche Kredite zu verkaufen. Die kommunistische 'Trybuna Ludu‘ kann die nationale Tonart spielen. Die deutsche Außenpolitik erscheint trotz der Genscher-Rede vor der UNO erneut als zweideutig. Wie kann die Regierung jetzt unvermittelt den Berufsschlesiern einen derartigen Einfluß auf die Ostpolitik zuspielen? Wie die Autonomiebestrebungen in Osteuropa so konterkarieren? Wie kann man Gastgebern gegenüber mit ausgestreckter Hand auf die Zehen treten? Gewollt? Nein, triebhaft ist es! Entdeckt nicht der untrügliche Instinkt des Kanzlers wieder das Volk ohne Raum, das schon einmal beim Bezug des europäischen Hauses Platzbedarf anmelden könnte? Bei aller Friedfertigkeit: die Nachbarn sollten doch begreifen, daß die großdeutsche Familie schon immer in der mitteleuropäischen Beletage wohnte.
Klaus Hartung
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