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Das Volksfest auf der Mauer

■ Am Brandenburger Tor probt eine Stadt den deutsch-deutschen Klimmzug

Die Mauer provoziert. Sie steht da, als hätte sie an diesem Abend keine Nachrichten gehört. Als wüßte sie noch gar nicht wie sinnlos sie geworden ist. Vor dem Brandenburger Tor ist sie so breit wie die Betten, aus denen viele Berliner soeben gestiegen sind, um in dieser Nacht dabeizusein. Die Nacht, „auf die wir 28 Jahre gewartet haben“ (Momper). Die Fernsehteams haben die Mauer taghell ausgeleuchtet, ein Wasserwerfer spritzt noch schüchtern von Ost nach West, mehrere Hundert, vielleicht Tausend umlagern die historische Stätte. Strahlende Gesichter, Siegesgeheul, Kinder unterm Weihnachtsbaum.

Irgendwann ist der Erste raufgeklettert, magisch angezogen von dem symbolträchtigsten und meistgehaßten Bauwerk dieser Stadt. Dann werden Hände gereicht, „Leitern“ gebaut, wird gezerrt und geschoben. Die Berliner stürmen die Mauer. Kaum einer kommt oben an, ohne zu jauchzen und die Arme hochzureißen. „Die Mauer muß weg! Die Mauer muß weg!“ heißt die Parole des Abends. Nur: der Chor ist schon von der Realität überholt. Das Gebrüll der Leute erscheint fast wie ein nachträglicher Vollzug, wie die hundertstimmige Bestätigung dessen, was viele noch immer nicht fassen können. Die Mauer ist weg. Das meistgebrauchte Wort: „Wahnsinn! Ick gloob's nich!“

Die unten staunen, die oben jubeln, und nicht nur die Kids. Auch einige ältere Herrschaften probieren den Klimmzug oder baumeln zentnerschwer an kräftig ziehenden Armen. Oben stehen Lackschühchen neben Springerstiefeln, Sektpullen kreisen, die ersten Besoffskis grölen, Blicke kreisen von hüben nach drüben. Volksfest: Die Geste des Abends ist die Umarmung.

Die Wasserwerfer jenseits der Mauer haben den Hahn wieder zugedreht. Polizei und aufmarschierte Nationale Volksarmee haben längst begriffen: Der Versuch, die Berliner von der Mauer zu spritzen, paßt nicht in diese Zeit, nicht in diese Nacht, nicht zu dieser deutsch-deutschen Mauer-fiesta.

Einige Ostberliner sind „legal“ rübergekommen und dann auf der Westseite hochgeklettert. Am frühen Morgen findet endlich die direkte Verbrüderung statt: Von beiden Seiten wird das Bauwerk genommen. Ost und West ist obenauf, fällt sich in die Arme. Vereinzelt klettern Westberliner auf der Ostseite wieder runter und laufen durchs Brandenburger Tor. Die DDR-Grenzer sind verlegen, hilflos, zucken die Achseln, gewähren freien Eintritt. „Ich war die ganze Nacht drüben und hab mich erst heute morgen von einem Trabi zur Grenze bringen lassen“, berichtet eine taz-Kollegin mit leuchtenden Augen am Morgen.

Kurz nach Mitternacht wird eine Gruppe von 30 Westberlinern, die von der Ostseite gekommen sind, auf die Mauer gezogen. Zuvor haben sie es am Grenzübergang Invalidenstraße nicht mehr ausgehalten. Um die deutsch -deutsche Schleuse nicht zur Einbahnstraße verkommen zu lassen, wurde das Eisentor samt Ost-Grenzer weggestoßen und nach Ost-Berlin „eingereist“. „Zum Brandenburger Tor!“ hatte die Spitze des kleines Zuges gebrüllt. Dann ging es durch menschenleere Straßen zur gesamtdeutschen Symbolstätte. „Aufwachen! Aufwachen!“ - den euphorischen Ruf schien in den dunklen Häuserschluchten niemand zu hören: „Die sind alle im Westen“, lautete die Schnelldiagnose, „und wir im Osten.“ Trotz aufmarschierter NVA, Kalaschnikows und Wasserwerfern blieb der Rückzug der Dreißig unproblematisch. Nach kurzem Gedränge wird der Weg für die Westler freigegeben. Sie kriegen Durchlaß zum Brandenburger Tor und verschwinden über die Mauer.

Der Star dieser Nacht, ein rauschebärtiger Hüne, hat von all dem nichts bemerkt, arbeitet weiter wie besessen und entzückt die Massen. Er hat Fäustel und Meißel mitgebracht und schon mal begonnen, die Mauer abzutragen. Die obere Kante ist auf Westseite bereits sichtbar angeknabbert. Kein Zementstück, das ohne Beifall und Triumphchöre in die Menge splittert. Ein ganz Schlauer holt sich ein Bröckchen und steckt es als „erste Devotionalie“ breit grinsend ein. Die letzten Wetten werden abgeschlossen, wann der materielle Fall der Mauer dem politischen folgen wird. „Nächste Woche wird gepickelt“, prophezeiht siegessicher ein schwarzer Schnauzbart und hat gleich konkrete Vorschläge parat. „Arbeitsfrei in Ost und West, jeder Berliner kriegt sein eigenes Mauerstück - und dann geht's ab mit einer Riesenfete.“

Auch an historischen Tagen wird man müde. Am Reichstag sucht ein Hausmeister aus Ost-Berlin Mitfahrgelegenheit zum „Moritzplatz“. Er will zurück, will endlich seinem Kollegen den „Stempel auf der Pappe“ zeigen. „Da wird er kiecken, der alte Nappel, daß ick drüben war.“ Er mußte halt „einfach mal rüberhüpfen, diesem Gefühl nachgeben“. Welchem Gefühl? „Na Du mußt da rein in diesen dunklen Sack, und dabei komm ich mir jetzt vor, als wär ich schon 100 Jahre hiergewesen.“ Kommt er morgen wieder, um noch mal „übern Ku'damm zu latschen“? Achselzucken und leise Enttäuschung: „Dazu brauchst Du Knete. Du kannst ja nicht nur in der Nase popeln und zugucken wie sich die andern bei Kranzler die Sahntörtchen reinschieben.“

Abschied am Grenzübergang Prinzenstraße. Dort ist noch immer halb Kreuzberg auf den Beinen. Noch immer wird jeder ankommende Trabi wie ein kleines Kind gehätschelt. Noch immer fahren die Besucher aus Ost-Berlin mit feuchten Augen durch ein dichtes Spalier klatschender, bewegter Westberliner. So werden bei uns sonst nur Fußball -Weltmeister empfangen. Vereinzelt wird mal ein Schein durch ein Fenster geschoben: „Koof Dir'n Bier“, andere verteilen bereits die Flaschen.

Gegenverkehr ist in dieser schmalen Gasse nicht möglich. Ein einzelner Trabi, der bereits „auf Reserve“ fährt, wartet auf eine Lücke um zurückzufahren. „Laßt doch den mal durch, das ist der Elektriker, der macht drüben das Licht aus.“ An diesem Abend kann man auch über diese Bösartigkeit nur herzlich lachen.

Manfred Kriener

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