piwik no script img

Das egalitäre Vermächtnis

■ Ludwig von Friedeburgs „Bildungsreform in Deutschland - Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch“

Der Autor von Bildungsreform in Deutschland, Ludwig v. Friedeburg, Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, weiß, wovon er spricht, war er doch selbst in jenen bewegten Jahren der Reform Kultusminister im damals sozialliberal regierten Hessen und eine der zentralen Figuren des gesamten Reformprojekts. Wer freilich aufgrund dieses Umstandes eine Art apologetischer Memoirenliteratur erwartet hatte, dürfte enttäuscht werden. V. Friedeburg legt mit diesem Buch sowohl eine Summe seiner eigenen bildungssoziologischen Arbeiten als auch einen abschließenden Überblick zu rund zwanzig Jahren im engeren Sinn erziehungswissenschaftlicher Forschung vor. Besonders daran wird deutlich, daß das bisherige Einbahnstraßenverhältnis von der Soziologie zur Pädagogik einer gleichberechtigten Partnerschaft gewichen ist: Friedeburgs Darstellung hätte ohne die vielfältigen und umfangreichen empirischen und historischen Arbeiten der jüngsten Pädagogik nicht geschrieben werden können. So stellt sich Bildungsreform in Deutschland auch als das von einem Soziologen verfaßte Kompendium neuer pädagogischer Forschung dar.

Die mit diesem Buch vorliegende Gesellschaftsgeschichte deutscher Bildungspolitik hebt indessen von Anfang an die strukturellen Bedingungen und Restriktionen hervor, an der eine moderne und emanzipatorische Bildungspolitik in Deutschland zu arbeiten hatte.

Anders als in den großen westlichen Demokratien ist das deutsche Bildungswesen Ausdruck einer halbherzigen, von oben gelenkten Modernisierung gewesen, die zwar die ökonomischen Prämien einer modernisierten Gesellschaft abschöpfen, aber nicht deren demokratischen Preis zahlen wollte.

Vier Elemente sind es, die das neuere deutsche Bildungswesen Ende des achtzehnten Jahrhunderts bei seinem Gang in die Moderne begleiteten und bis heute beeinflussen:

Erstens ist das deutsche Bildungswesen aufgrund seiner Herkunft aus der militärstaatlichstaatlich imprägnierten preußischen Reform zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts autoritär-hierarchisch und nicht kommunal-demokratisch strukturiert, wie dies etwa in den USA der Fall war.

Zweitens litt das deutsche Bildungswesen aufgrund des Fehlens einer bürgerlichen Revolution und damit einer entscheidenden Trennung von Staat und Kirche bis in die Gründung der Bundesrepublik an dem überfälligen und kräftezehrenden Kampf wider den kirchlichen Einfluß im Schulwesen bzw. für eine allen zugänglich, weltanschauungsfreie Schule.

Drittens schlug sich die halbherzige Modernisierung der preußischen Reformen trotz ihres von oben gelenkten Einsatzes für Gewerbefreiheit und Markt in Kompromissen mit dem noch ständisch verfaßten Handwewrk nieder, was insbesondere das duale System der Berufsbildung mit seiner hohen Anfälligkeit für ungleiche Behandlung der Auszubildenden zur Folge hatte.

Die Modernisierung Preußens stellte - so kann v. Friedeburg überzeugend nachweisen - kaum anderes dar, als den Übergang von einer feudal-geburtsständischen zu einer kapitalistisch-berufsständischen Gesellschaftsformation, die außer dem Mangel an Demokratie vielfältige Konzessionen an vormoderne gesellschaftliche Mächte wie die Kirchen und Handwerkskammern machte. Verbunden mit der bekannten politischen Ohnmacht des deutschen Bürgertums, hatte dies viertens zur Folge, daß das vielfältig gegliederte Schulsystem eine eigene Klasse von Nutznießern hervorbrachte, nämlich ein Bildungsbürgertum, das unter quasi-feudalen Bedingungen seine Herkunftsdefizite durch die Befestigung von im Bildungssystem erworbenen Statusvorteilen auszugleichen suchte. Diese Statusvorteile können wir heute als „kulturelles Kapital“ bezeichnen und besitzen damit einen Begriff zur Analyse jener Verteilungskämpfe und Defensivaktionen, mit denen ein sich je und je erneuerndes Bildungsbürgertum immer wieder seine berufsständischen Vorteile gegen eine Verbreiterung der gesellschaftlichen Teilhabe am Bildungssystem verteidigte - bis heute.

In einer ebenso systematischen wie gehaltvollen Geschichte des Bildungssystems von der frühen Neuzeit bis in die siebziger Jahre kann v. Friedburg nun zeigen, wann und unter welchen Umständen die vier benannten Modernitätsrückstände allmählich gelockert oder gar abgeschafft wurden.

In dieser Perspektive sind es die erste deutsche Republik zwischen den Weltkriegen und eben die sechziger und siebziger Jahre, die entscheidend zu Modernisierung und Egalisierung beigetragen haben. Der Kampf um eine gemeinsame Grundschule für alle Kinder, der nach einer unerhört harten politischen Auseinandersetzung Mitte der zwanziger Jahre halbwegs gewonnen wurde, war neben einer erheblichen Schwächung der konfessionellen Schule die erste bedeutende Etappe im Kampf gegen die ständischen Restanten des deutschen Schulwesens. Die antiautoritäre Bewegung der sechziger Jahre, verbunden mit einer öffentlichen Debatte über die Inhalte des Curriculums verflüssigte die hierarchisch-autoritäre Struktur des deutschen Bildungswesens irreversibel.

Aber sowohl die im Berufsschulwesen überlebende berufsständische Grundstruktur als auch die antiegalitären Statusegoismen eines sich den Zeitläufen anpassenden Bildungsbürgertums überstanden die Einrichtung egalitärer Grundschulen und den Abbau autoritärer Strukturen. Zumal das duale System der Berufsbildung und die Dreigliederung des Bildungssystems waren - so zeigt v. Friedeburg - der Faschisierung von Bildung und Ausbildung im Nationalsozialismus besonders dienlich. Daß die deutschen Bildungseliten - von Spranger bis Heidegger - dieser Faschisierung nicht nur zustimmten, sondern sie sogar beförderten, gewinnt vor diesem Hintergrund nicht nur geistesgeschichtliche, sondern auch soziologische Plausibilität. Nach dem Kriege wurde im nun föderalen Staat der Bundesrepublik Deutschland ein egalitärer Neubeginn versäumt. Dabei spielte der Kampf um das sogenannte „Elternrecht“, das heute eine fragwürdige Renaissance auch auf seiten von Sozialdemokratie und Grünen erlebt, eine besondere Rolle.

Das „Elternrecht“ stellt gleichsam ein Produkt aus ständischen Fremdkörpern in einem sozialstaatlich ausdifferenzierten Bildungswesen und aus klassenbezogenen Besitzstandinteressen dar und erscheint somit als die entscheidende ideologische Größe, die einer weiteren Modernisierung im Wege steht. Zumal die Urteile des Bundesverfassungsgerichts aus den frühen siebziger Jahren haben dieses Elternrecht als vorbehaltlosen Anspruch außer Kraft gesetzt, was indessen offensive konservative Bildungspolitiker und ängstlich gewordene progressive Kräfte nicht daran hindert, diesem Ideologem immer wieder aufzusitzen bzw. es zu mobilisieren. Man kann daher v. Friedeburg nur zustimmen, wenn er auf der Basis einer Analyse von BVG-Urteilen zu dem Schluß kommt:

„Die Kinder der Eltern sind zugleich werdende Staatsbürger, über deren Schulausbildung nicht die Eltern allein zu befinden haben, sondern die Gesamtheit aller Bürger, zusammengefaßt im Staat. Ganz abgesehen von den eigenen Rechten der Kinder, denen es Geltung erst zu verschaffen gilt.“ Derlei zu betonen ist unpopulär in einer Zeit, in der der Hinweis auf sozialstrukturelle Ungleichheiten und überlegte Planung kurzschlußartig mit „Bolschewismus“ und Totalitarismus gleichgesetzt wird - falsch wird er dadurch noch lange nicht. Vielmehr wird an dieser Längsschnittstudie der Entwicklung des Bildungswesens deutlich, daß nur der Abbau ständischer Elemente, zu denen das Elternrecht gehört, ein gerechtes Schulwesen zu schaffen vermag. Wer das Ideologem vom Elternrecht akzeptiert hat, braucht in den Kampf um eine Reform des Bildungswesens erst gar nicht einzutreten. Diesen Kampf um die Reform hatte v. Friedeburg als hessischer Kultusminister in den siebziger Jahren selbst aufgenommen. Unter der unscheinbaren Zwischenüberschrift „Mittelstufe in Hessen“ werden wir Zeugen einer nüchternen Bilanz. V. Friedeburg versucht hier erstens deutlich zu machen, warum die hessische Schulreform nach außen hin so hektisch wirken mußte:

„Um so lange Versäumtes nachzuholen, schienen zeitraubende Vorarbeiten kaum mehr möglich zu sein. Auch konnte nicht jahrelang darauf gewartet werden, bis auf den Hochschulen neue Lehrer in neuer Weise ausgebildet worden wären. Denn die Schüler brauchten ihre Lehrer jetzt. Um die Bildungsreform zu verwirklichen, um das Schulsystem also insgesamt zu verändern, mußte alles zugleich in Angriff genommen werden: Schulbau und neue Organisation, veränderte Lehrerausbildung an den Hochschulen und Fortbildung der Lehrer im Schuldienst, neue Lehrpläne und Unterrichtsmethoden. Sie vor allem wurden zum Stein des Anstoßes.“

Und hier kann nun v. Friedburg überzeugend und den mittlerweile fast überall beheimateten Gerüchten entgegen zweitens nachweisen, daß die vielverketzerten Rahmenrichtlinien „Deutsch“ und die „Gesellschaftslehre“ gerade nicht das waren, was ihnen bis heute unterstellt wird, nämlich Werkzeuge zur Indoktrinierung von Schülern, sondern gerade im Gegenteil der Versuch, rationale Lernziele öffentlich der Kritik auszusetzen und damit einem Gebot der Demokratie zu folgen. In der Tat muß ja auffallen, daß bis zu jener Zeit deutsche Kulturverwaltungen sich so gut wie nie dazu bereit fanden, ihre Lehrpläne öffentlicher Kritik auszusetzen. Nie wurden oder werden „normal“ verfahrende Bildungsverwaltungen dafür behaftet, ihre Lehrplanentwürfe ohne Diskussion auf dem Erlaßweg durchzusetzen, während in jenem Augenblick, als diese nun wirklich undemokratische Praxis aufgegeben wurde, den Demokratisierern daraus der Vorwurf der Indoktrination gemacht wurde. Eine ärgere Verdrehung der Tatsachen läßt sich nun wirklich nicht mehr denken, und es mußte zur Resignation führen, daß reaktionäre Ideologen und bildungsbürgerliche Elternverbände mit dem „Elternrecht“ auf den Lippen und solchen Scheinargumenten politische Siege erringen konnten. Die Erklärung hierfür liegt in der relativen gesellschaftlichen Macht eines neuen Mittelstandes, der das Erbe des alten Bildungsbürgertums aggressiv und offensiv übernommen hat und über bessere Artikulationsmöglichkeiten verfügt als die Fülle der Eltern, die ihren Kindern ohne zu hohe Schwellen wenigstens die Möglichkeit eröffnen möchten, das Abitur zu erwerben.

Der Ausblick, den v. Friedeburg auf die heutige Lage wirft, zeigt das paradoxe Bild einer enthierarchisierten, beinahe anomischen Binnenstruktur des Schulwesens, verbunden mit einer starken sozialen Differenzierung hier und einer ungeplanten Reform aus der Gesellschaft, die etwa dazu führt, daß das Gymnasium zu einer Art Gesamtschule geworden ist und die Realschulen immer stärker zu einer Art Hochschulreife führen. Die Folge dieser paradoxen Entwicklung ist bleibende Ungleichheit bei weniger Autoritarismus, ein offeneres Lehrangebot bei zunehmends verunsicherten Lehrern.

V. Friedeburgs Thema ist gesellschaftliche Gleichheit durch Bildung, wobei er - ganz in den Grenzen der Epoche, in der er gekämpft hat - jene Fragen, die heute mit der ambivalenten Neuentdeckung der Differenz debattiert werden, ebensowenig behandelt wie er der prophetischen Kritik etwa H.J. Heydorns an einer technokratisch mißratenen Gesamtschule nicht gerecht wird. Das Problem der Ungleichbehandlung von Mädchen, Einwandererkindern und Behinderten wird auch im Ausblick nicht angesprochen. Eine Dialektik der Aufklärung auch im Bildungswesen scheint v. Friedeburg kaum zu sehen.

Mit „Bildungsreform in Deutschland“ hat v. Friedeburg sowohl ein sozialgeschichtliches Standardwerk als auch eine sozialwissenschaftlich kontrollierte politische Selbstreflexion vorgelegt, die in genau dieser Verbindung einmalig ist.

All jenen, die damals, zur Zeit der Bildungsreform, zur Schule gingen oder studierten, und heute, als frischgebackene BildungspolitikerInnen den Versuch unternehmen, eigene progressive, soziale und ökologische Impulse im Bildungssystem zu verankern, wäre die Lektüre dieses Buches dringend ans Herz zu legen. Sie könnten aus der Lektüre lernen, daß sie selbst nicht den geringsten Anlaß haben, verächtlich auf den vermeintlichen „Sozialdemokratismus“ der Bildungsreform herabzublicken, da ihr eigenes Wirken ohne diese Reform kaum möglich geworden wäre, und zudem einsehen, daß sie - ebenso wie die Reformer der sechziger und siebziger Jahre - MitarbeiterInnen an einem säkularen Projekt sind, das in der Zeit der Aufklärung begonnen hat und noch lange nicht beendet sein wird, dem Projekt der egalitären und individualisierenden Reform des Bildungswesens.

Vielleicht werden sie (oder sollte ich schreiben wir?) sogar erkennen, daß wir neuen Bildungsbürger dabei stets in Gefahr sind, der Wahrung unseres eigenen kulturellen Kapitals den Vorrang vor mehr Gerechtigkeit für alle zu geben.

Micha Brumlik

Ludwig von Friedeburg, Bildungsreform in Deutschland, Suhrkamp-Verlag, 460 Seiten, 58 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen