: „Wir müssen auch Goebbels Ethik diskutieren dürfen“
■ Die „Krüppelinitiative“ sprengte vergangenen Freitag das Seminar „Probleme der angewandten Ethik“ wegen der Behandlung des Buches „Praktische Ethik“ des australischen Moralphilosophen Peter Singer / Ein Gespräch mit drei SeminarteilnehmerInnen
taz: Ihr seid empört, daß mit den SeminarbesetzerInnen keine Diskussion stattfand, und daß das Semimar einfach „abgetrillert“ und „abgepfiffen“ wurde. Warum?
Uta: Wir finden es wichtig, über moralische Probleme wie Abtreibung, Euthanasie, umgekehrte Diskriminierung und Tierestötung zu diskutieren, damit eine rationale, argumentative Auseinandersetzung stattfindet und nicht intuitiv entschieden wird. In dem Seminar suchen wir nach moralisch relevanten Kriterien.
Der Vorwurf war, man könne Singers Thesen nicht wertfrei in einem universitären Elfenbeinturm diskutieren, sondern müsse politisch diskutieren, da Singer im Dienste der Gen und Reproduktiontechnologie arbeite und dieser eine Gebrauchs-Ethik liefere.
Matthias: Wir bemühen uns um einen möglichst wertfreien philosophischen Dialog, weil erst er es ermöglicht, sich mit den verschiedenen Argumenten auseinanderzusetzen. Ich möchte betonen - wir beschäftigen uns innerhalb des Seminars nur in drei Sitzungen mit Euthanasie und nur in einer einzigen Sitzung werden Singers Thesen diskutiert werden. In den anderen beiden Sitzungen werden Gegenpositionen zu Singer zu Wort kommen.
Es wird kritisiert, Singer mache die Tötung behinderter oder kranker Menschen als mögliche Handlungsvariante diskutierbar. Wie steht Ihr dazu?
Uta: Die Aufgabe des Semiars ist es, zu schauen, wie argumentiert Singer. Wenn ich zu dem Schluß komme, ich halte Singers Thesen für unmoralisch, muß ich rationale Argumente finden, um sie zu widerlegen. Das finde ich sinnvoller, als einfach nur intuitiv zu sagen, das paßt mir nicht.
Kann man das Lebensrecht an sich überhaupt in Frage stellen?
Uta: Es gibt Menschen, die in Positionen sind, wo sie über Leben entscheiden müssen. Ein Arzt ist oft in der Situation, in der er sich fragt: Schalte ich die Maschine ab oder nicht? Das ist Alltag in den Krankenhäusern. Und es ist daher umso wichtiger, rationale und damit überprüfbare Kriterien zu finden. Wir reden die Probleme ja nicht herbei.
Harald: Mit der Frage, darf man Lebensrecht in Frage stellen, wird extrem vereinfacht, denn die Probleme: Sterben wollen, klinisch Tote, Schwerkranke, im Koma liegende Patienten gibt es.
Ich gehe davon aus, daß Singer mit Euthansie auch eine Rechtfertigung für die Tötung von behinderten Menschen liefert.
Harald: Daß er eine Rechtfertigung für die Tötung behinderten Lebens liefert, weil es behindert ist, ist faktisch falsch. Wer sich überzeugen will, soll Singers Buch von vorne lesen...
Matthias: Zum Vorwurf der Gebrauchsethik: Ich erinnere nur an die Diskussion über Heideggers und Nietzsches mögliche Verflechtung mit dem Faschismus. Ideen werden nämlich dann besonders mächtig, wenn man über sie nicht redet. Verdrängung und Tabuisierung sind keine Lösung.
Uta: Ich denke auch, daß man politisch effizienter ist, wenn man die Singersche Argumentation aus sich selbst heraus sprengen kann und nicht nur einfach durch die eigene Intuition.
Um Singer zu widerlegen, müßte man ihn in ein interdisziplinäres Konzept stellen.
Matthias: Interdisziplinär heißt aber nicht, die Probleme mit und um Singer auszuschalten. Singer stellt Problemlagen dar wie: Ist der Fötus ein Lebewesen? Gehören Abtreibung und Euthanasie zusammen? Und er versucht sie zu Ende zu denken. Man muß sich nicht auf sein Menschenbild einlassen, sondern sollte die Überlegungen, die er anstellt, mit ihm oder eventuell gegen ihn denken.
Ich fasse noch mal kurz zusammen: Ihr sagt, um rationale Kriterien zu finden, muß alles diskutierbar sein, auch Singers tödliche Ethik. Gibt es nicht eine moralische Grenze?
Harald: Wie will man die Grenze festlegen, wenn man die Probleme nicht diskutiert?
Matthias: Wer hat die Definitionsmacht über die Grenzen, wer soll festlegen, wie über was geredet werden darf? Die Grenzen sind jahrhundertelang durch Kirchen und andere Autoritäten festgelegt worden. Die Aufklärung und die Frauenbewegung haben Wertmaßstäbe in Frage gestellt, so daß wir jetzt endlich selber gefragt sind. Die Macht der Autoritäten ist verloren gegangen, und das ist gut so.
Gibt es in der Geschichte Ethiker, die das Lebensrecht kranker und behinderter Menschen gedanklich in Frage gestellt haben?
Uta: Plato und Aristoteles sprechen ganz klar davon, daß es sinnvoll ist, behinderte Säuglinge auszusetzen. Ich denke, daß wir da heute wirklich einen anderen Anspruch haben. Diese Ethiken waren für erwachsene, reiche, griechische Männer geschrieben. Wir haben heute einen viel universalistischeren Anspruch. Erst die Autorität Kirche hat bestimmt, daß man Säuglinge nicht aussetzen darf. Und deswegen ist es sinnvoll, daß wir heute, wo die Kirche nicht mehr als die Autorität gilt, sehen, daß wir die Grenzen, die wir für sinnvoll halten, argumentativ, also rational festlegen. Gerade am Faschismus kann man ganz klar festmachen, daß es gefährlich ist, moralische Entscheidungen nach so etwas Intuitivem wie „Volksempfinden“ zu fällen.
Matthias: Ich bin sicher, daß man in einer rationalen Diskussion zu Schlüssen kommt, die wirklich nichts damit zu tun haben, was während der Nazizeit praktiziert worden ist, wo willkürlich und intuitiv über „lebenswertes und lebensunwertes“ Leben gesprochen und entschieden worden ist. Der Versuch, uns in die Ecke des Faschismus zu stellen, ist absurd. Denn wir versuchen ja gerade, in Diskussionen rationale Argumente zu finden, die es nicht mehr zulassen, intuitiv über Leben zu entscheiden, so wie es im Faschismus gemacht wurde.
Harald: Die Nazis haben bei der Entscheidung, welches Leben „lebenswert“ ist und welches nicht, externe Kriterien angelegt. Das heißt für die Gemeinschaft, für die Gesellschaft, für die Rasse. Sie haben sich keinen Deut darum geschert, was der Betroffene fühlt und haben das auch nicht als relevantes Kriterium angesehen. Bei Singer steht explizit, daß er externe Bewertungskriterien selbstverständlich für moralisch irrelevant hält.
Uta: Wenn Singer irgendwo mal dazu kommt, daß man Leben umbringen kann, dann eben nicht, weil es für die Gesellschaft sinnvoll wäre, sondern er zieht seine Schlüsse aus dem, was das Wesen an Rechten und an Gefühlen mitbringt. Die Frage ist, wie man diesen Gefühlen und Rechten im Konfliktfall gerecht werden kann.
Harald: Wenn wir über Moral diskutieren, dann können wir an die Diskussion selber nicht die moralischen Standards anlegen, die wir erst rauskriegen wollen. Rationalität ist in diesem Sinne vor-moralisch. Wir müssen auch Goebbels Ethik diskutieren dürfen, um nachweisen zu können, daß sie unmoralisch ist. Es ist einfach ein Kategorienfehler zu sagen, diese Thesen passen mir nicht, deswegen können wir sie nicht besprechen.
Ist das Lebensrecht denn nicht absolut?
Uta: Wenn wir Lebensrecht absolut über alles andere stellen würden, dann müßten wir den Autoverkehr sofort abschaffen, Rauchen müßte sofort verboten werden, Menschen, die versucht haben, sich umzubringen, müßten die Höchststrafe bekommen. Daß das Lebensrecht ein sehr hohes ist, ist keine Frage. Doch Lebensrecht wird erst durch den Diskurs festgelegt. In der Natur gibt es nur Starke und Schwache. Wenn man aber dazu kommt, daß man die Schwachen nicht einfach umbringen darf, dann ist das das Ergebnis eines Diskurses.
Harald: Es gibt prinzipiell zwei Möglichkeiten, wie wir zu unseren moralischen Prinzipien kommen können: Dogmatismus oder Vernunft. Vernunftlösungen sind prinzipiell vorzuziehen, denn dogmatische Ergebnisse können jede beliebige Form annehmen. Nur die rationale Diskussion macht unsere moralischen Prinzipien auch überprüfbar. Das Lebensrecht hat in unserer Gesellschaft deswegen einen so hohen Stellenwert, weil es rational ausgehandelt wurde.
Uta: Das heißt, das Lebensrecht ist aus der Diskussion entstanden und kann auch nur durch die Diskussion garantiert werden.
Das Gespräch führte Michaela Eck
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