: Eine Figur der Leere
■ Über die japanische Würde des Scheiterns
Könnten wir fallen wie Kirschblüten im Frühling — so rein und strahlend!“ diesen Haiku aus drei Zeilen schrieb ein junger japanischer Kamikaze-Pilot kurz vor seinem selbstmörderischen Einsatz. Letztes Zeugnis eines Einundzwanzigjährigen, bevor er mit seinem fliegenden Torpedo mit Stummelflügeln, den die Japaner „Oka“, das heißt: „Kirschblüte“ nannten, auf dem Deck eines amerikanischen Kriegsschiffes aufschlagen sollte. Wenige Monate nach dieser Ultimaraktion der kaiserlich-japanischen Streitkräfte im Frühjahr 1945 warf der Kriegsgegner USA zwei Atombomben über Bevölkerungszentren ab. Archaisch wirkende Praktiken des Selbstopfers trafen auf Waffen des beginnenden Atomzeitalters; Extreme zweier Epochen standen einander gegenüber.
Die Tausende junger Kamikaze- Piloten übernahmen das Kirschblüten-Symbol der Samurai-Krieger und setzten sich damit in eine Traditionslinie, die in legendenerfüllte Vorzeit zurückreicht; sie verpflichteten sich einer spezifisch japanischen Geisteshaltung, deren kriegerische Erscheinung im Zweiten Weltkrieg dem „gesundenen Menschenverstand“ als eine ungeheuerliche Monströsität erschien.
Das vorliegende Buch von Ivan Morris ist nicht nur eine ungemein fundierte Mentalitätsgeschichte eines hervorragenden Japan-Experten, eine Kulturgeschichte des japanischen Heldentums — es ist auch ein bedeutender Annäherungsversuch an die Wurzeln eines Landes, das uns Europäern fern ist — das fernste, zumal uns die Vorstellung des modernen Japan als die eines gigantischen Industrie-Imperiums mit enormen Wachstumszahlen den Blick verengt. Wer das „Wesen des japanischen Geistes“ verstehen wolle, hatte der Schriftsteller Mishima dem Autor dieses Buches erklärt, der müsse den entschlossenen Heldentypus studieren, keineswegs dagegen die Hofdamen-Tagebücher der Heian-Zeit, den schöngeistigen Austausch von Gedichten oder rituelle Teezeremonien“.
Wer den japanischen Nationalcharakter durch Anpassungsfähigkeit und Erfolgsorientierung geprägt sieht, wird hier eine völlig entgegengesetzte Seite im japanischen Denken entdecken. Ivan Morris stellt das japanische Heldenpantheon in einer historisch-legendären Montage dar; dem Autor sind Mythen und literarische Legenden von gleichem Quellenwert wie geschichtlich verbürgte Tatsachen. Gemeinsam ist jenen Heldenfiguren, daß sie nicht zu den Siegern zählen, die letzlich den Geschichtsverlauf bestimmt haben, sondern daß sie zu den Gescheiterten gehören, zu den Aufrichtigen und Einsamen, die für einen von vornherein verlorene Sache einstanden. In der Glücklosigkeit japanischer Helden liegt „eine Art von Unschuld“, die zum Kern jeder heroischen Existenz gehört. Die hierin vor Augen tretende pessimistische Weltsicht der Japaner, die etwa der amerikanischen Hoffnung auf irdisches Glück diametral entgegensteht, ist Ausdruck der Überzeugung, daß früher oder später jeder zum Scheitern verurteilt ist. Morris stellt fest, daß die Erkenntnis besonderer Schönheit, die der Vergänglichkeit, dem unglücklichen Fall und dem „Pathos der Dinge“ innewohnt, in Japan in vielerlei Hinsicht den zuversichtlichen westlichen Glauben an die Möglichkeit des „Glücks“ ersetzt — was sich im besonders starken Mitgefühl für das tragische Schicksal des Helden widerspiegelt.
Neben dem Bild vom traditionellen Japan als einem Land der Höflichkeit und der Märchen, der verzweifelten Gewalt und der Schlachten ahnt man beim Lesen dieses Buches so etwas wie eine wiederkehrende Figur der Leere, die charakteristisch scheint für das japanische Empfinden. „Der Pfeil hat sowenig ein Ziel, wie das Leben eines hat: Was zählt, ist die Höflichkeit gegenüber dem Bogen.“ Jenes besondere Empfinden der Leere ist in einer Poesie gegenwärtig, die dem jungen Kamikaze-Piloten in seinem letzten Brief das Bild vom „namenlosen Stern“ eingibt, der, „sich in Nichts auflösend, in der Morgendämmerung verblasst.“ Für „leichter als eine Feder“, so solle der japanische Krieger sein Leben erachten, lehrt die jahrhundertealte Samurai-Philosophie. In Situationen äußerster Bedrängnis gilt ihr die Selbstentleibung durch Harakiri als die einzig ehrenvolle Lösung, und bezeichnend ist, daß fast alle der von Morris geschilderten Heldenleben mit dieser Form der Selbstauslöschung enden. Dem Freitod haftet hier keineswegs wie im Christentum die Sünde an, bezeugt er doch seinem Helden aufrechte Gesinnung und edlen Geist über jedes Eigeninteresse hinweg.
Vom japanischen Helden bleibt allein das Pathos der persönlichen Größe; selbstlos, loyal und treu, und auch impulsiv und weltfremd, wie die Legende ihn zeichnet, wird er zumeist Opfer von Intrigen, unschuldig mißbraucht für die Ziele Anderer. Die Geschichte, in Gestalt historisch verdienstvoller Widersacher, welche die Legende zu ehrgeizigen Schurken umdeutet, sie geht über den nonkonformistischen Verlierer hinweg, mit dem das Nationalgefühl sich identifiziert.
Größte Anziehungskraft erreicht das Heldenleben an seinem Ende, wenn es seinen Gipfelpunkt überschritten hat und fällt. Zahlreich sind die Episoden und die Symbole für jähen Niedergang, Fall und Sturz. Das Thema vom „verlorenen Posten“ erinnert in Deutschland an Formen eines reaktionären solidatischen Nationalismus zwischen den Weltkriegen, an eine versponene „Tat-Philosophie“, die dem faschistischen Staat eine willkommene Ideologie lieferte für persönliche Unterwerfung und Indienstnahme als Werkzeug. Doch dasselbe ist nicht das gleiche. Führt im Westen entweder zu Lebzeiten oder nach dem Tod der Weg des Helden zum Erfolg, steht nach japanischer Auffassung die Tugend eines Helden — so etwa: makoto (bedingungslose Aufrichtigkeit, Selbstlosigkeit und eine Kraft, die Welt für nichts zu achten) — gewöhnlich zu realem Erfolg im Gegensatz. Gemäß der Überzeugung, daß es in einer verdorbenen, verfallenen Welt gar nicht anders sein kann, gehorcht dies einer strengen Logik. Vielleicht stehen im Land hinter dem Horizont die legendären Heroen wahrhaftig gegen jede herrschende Wirklichkeit — im Westen stehen dafür allein literarische Figuren. Vielleicht handelt es sich jedoch nur um eine Art „Ersatzbefriedigung“ einer gehorsamen Mehrheit.
In einer kleinen Anmerkung zu dem umfangreichen Band schiebt der Autor ein persönliches Erlebnis, eine Taxifahrt durch Tokyo ein, während der sein Chauffeur „wie ein mittelalterlicher Samurai beim Angriff auf eine feindliche Festung durch die Innenstadt raste. Er veranstaltete eine Zickzackfahrt zwischen Bussen, Autos und Fußgängern, wobei er Verkehrsampeln und andere Hindernisse völlig ignorierte. Nach etwa zehn Minuten dieses selbstmörderischen Vorgehens bat ich den Fahrer anzuhalten... immer noch in vollster Fahrt, drehte er sich mit einem mitleidigem Lächeln zu mir herum und sagte: „Warum hängen Sie so sehr am Leben?“Jörg Becker
Ivan Morris: Samurai oder Von der Würe des Scheiterns.
Tragische Helden in der Geschichte Japans, Insel-Verlag
geb., 590 Seiten, 78 DM
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