: Über allen Gipfeln ist Wind
■ Moderne Drachen zwischen klassischer Geometrie und High-Tech-Material
Drachensteigen ist nicht nur Kindervergnügen, sondern auch eine Freizeitbeschäftigung für Tüfftler geworden. Baumaterialien und Flugtechniken setzen eine Spezialistenkenntnis voraus, die das Drachensteigen zur Wissenschaft machen kann.
Das geht los mit den Schnüren: Paketband und Baumwollfäden dehnen sich und reißen deshalb schnell bei Flughöhen über Sichtweite. Was für den Selbstbauer gilt, ist für die Profi-Hobbyisten nicht mehr tragbar. Polyschnüre verdauen eine Zugkraft bis zu einer Tonne, da fliegen Sie eher selbst mit, als das da etwas reißt. Berufsmäßige Drachensteiger schwören auf Keffler-Schnur, mit der man unter anderem auch bequem Elefanten angeln kann.
Auch bei den Leisten hat sich einiges geändert. Der Bambusstab hat seine Schuldigkeit getan, Glasfieber-und Kohlefaserstäbe bilden das Skelett der modernen Drachen. Sie sind leicht und brechen nicht, dehnen sich ausreichend und geben doch nicht nach.
Die Standardraute als Urform des Drachens ist einer Vielzahl von Formen und Körpern gewichen. Da ist nicht nur der Manta, der da fliegt (poooh, geil!) und als dreidimensionaler Rochen „Bronto“ in der Luft steht. Dreiecksformen und Rundformen erobern zunehmend die Flächendrachenpiste, bei den Körperdrachen feiern komplizierte geometrische Figuren fröhliche Urständ. Das Innenleben eines einfachen Kastendrachens ist so kompliziert, daß man bei einer Stangenlänge von einem Meter gut 25 Quadratmeter Stoffbespannung einkalkulieren muß. All denen, die das Elefantenangeln ernst nehmen wollen, sei ein Parafoil an Herz gelegt: Der zieht ihnen bei gutem Wind gleich ihren Kleinwagen mit in die Luft. Winken Sie doch, wenn Sie am Bremer Tower vorbeifliegen: Auch die Flugsicherung der Bremer Flughafen AG freut sich über Abwechselung am Arbeitsplatz.
Dann das Lenken. Für uns eindimensionale Fahrrad-Lenker mit dem klassischen Steuerdreisatz von Halten — links — rechts erschließen sich neue Dimensionen. Ein richtiger Drachenlenker kann mindestens Loopings fliegen und tobt vorzugsweise mit dem Drachen wie mit einer Marionette durch die Wolken. Die Vielfältigkeit der Lenkmöglichkeiten hängt von der Anzahl der Waagenpunkte ab. Das sind die Punkte, die das Gestänge mit den Schnüren verbindet. Lenkprofis können ihr Geschick beweisen, indem sie ihre Drachen kurz über der Erdoberfläche halten. Wie jeder Könner brauchen aber auch die Profilenker etwas Glück und denn richtigen Wind.
Die Geschichte der Drachen ist die Geschichte der Entwicklung von Flugkörpern. Die Funktionsweise ist deshalb die gleiche wie bei Flugzeugen. Vielleicht würde Otto Lilienthal heute noch leben, wenn er seine Flugexperimente an Drachen ausprobiert hätte:
Durch den Widerstand des Materials entstehen zwei unterschiedlich schnelle Luftströmungen. Weil der Druck von Gas mit zunehmender Strömungsgeschwindigkeit abnimmt, entsteht auf der „schnelleren“ Oberseite ein Unterdruck, der den Drachen steigen läßt. Bei einfachen Flächendrachen reicht der Preßdruch des Windes, der den Drachen oben hält. Die richtige Waage des Drachens optimiert den Stellwinkel in der Luft.
Ob ein Drachen fliegt oder nicht, hängt unter anderem auch vom Verhältnis der Lenkstange zur Spreizstange ab. Die Spreizstange darf nicht zu kurz geraten, der Kreuzpunkt der beiden Hauptrippen liegt in einem Punkt, der die Lenkstange im Verhältnis 3:1 teilt, die Spreizstange 1:1.
Wer keinen Drachen selbst bauen will, kann sich in Spezialgeschäften beraten und bedienen lassen. Das muß nicht, kann aber teuer werden. Einfache Flieger kosten 20 bis 40 Mark, in der Luxusklasse zum mitfliegen kann auch schon mal ein Riese über den Tisch gehen. Dazwischen liegt Raum für Diskussionen.
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