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Alle Wege führen nach Berlin

■ Die Tradition Berlins als kultureller Knotenpunkt reicht schon viele hundert Jahre zurück/ Vor dem Zweiten Weltkrieg waren es vor allem russische Künstler und Intellektuelle, die zur Bereicherung kulturellen Lebens in Berlin beitrugen

Berlin. »Berlin, Endstation, bitte alle aussteigen!« Mit diesen Worten begann 1978 meine Bekanntschaft mit Berlin. Wirklich eine Sackgasse, weiter ging es nicht für uns. Irgendwo dort, hinter der Mauer, schimmerte die Silhouette des unerreichbaren, unzugänglichen West- Berlin, dieses Muttermals am zerstückelten Körper Deutschlands. Die Berliner Mauer war auch für uns Osteuropäer ein Stacheldraht, der uns von der freien Welt, von den freien Menschen trennte.

Es heißt, alle Wege führen nach Rom. Alle Wege aus dem Osten führten immer nach Berlin. Berlin war immer die Brücke zwischen dem Osten und dem Westen, zwischen Völkern und Kulturen. Heute, wo das Thema »Ausländer in Deutschland« nicht nur Stoff für Schlagzeilen abgibt, sondern zu einem Problem geworden ist, das die Ausländer in Angst versetzt, die Regierungen alarmiert, worüber sich die Weltöffentlichkeit empört und dessen sich alle anständigen Deutschen schämen, sollte man sich erinnern, daß Berlin nicht zum ersten Mal seine Tore für Zuwanderer aus dem Ausland öffnet, sondern es schon oft in seiner Geschichte getan hat. So zum Beispiel für die Hugenotten im 16. und 17. Jahrhundert.

Mehrere hundert Jahre später, in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts, konnte die künstlerische und intellektuelle Elite Rußlands hier leben, die früher als andere die blutige Zukunft ihres Landes vorausahnte und voraussah und sich deshalb auf den qualvollen Weg in die Emigration machte.

Die erste Station für mehr als 300.000 Rechtlose und Vertriebene war Berlin. Für viele Russen wurde es dann auch zur zweiten Heimat, für einige nur zu einer Umsteigestation vor dem weiteren Weg durch Europa und Amerika. Einige konnten auch in der Fremde nirgends heimisch werden, sie kehrten nach Hause zurück, getrieben von der ewigen russischen Seelenkrankheit, dem Heimweh, von dem sie erst um den Preis ihres Lebens geheilt werden würden. Aber das kam später.

Zunächst, in den 20er Jahren, wurde Berlin zu einem Mekka der Kultur, das Künstler vereinte, ohne deren Schaffen die Kunst des 20. Jahrhunderts nicht vorstellbar wäre.

In billigen möblierten Zimmern erblickten die Gedichte Boris Pasternaks, Ossip Mandelstams und Marina Zwetajewas das Licht der Welt. In Berlin schrieb Sergej Prokofjew seine Oper Der Feuerengel, in den Galerien und in den Ateliers des Ku'damms wurden die Arbeiten Marc Chagalls, Wassili Kandinskis und Kasimir Malewitsch' ausgestellt.

Man möchte annehmen, daß Berlin zu keiner anderen Zeit ein solch intensives, brodelndes Kulturleben aufwies wie in jenen 20er Jahren. Und wer weiß, welch eine Blüte und welche künstlerischen Höhen die Verbindung der beiden großen Kulturen noch hervorgebracht hätte, wie viele geniale Werke die Menschheit noch hätte gewinnen können, wenn nicht ein kleines Häuflein von Menschen — so klein, daß es anfangs nicht ernst genommen wurde — ein Häuflein von Menschen, die aus irgendwelchen Gründen Juden und Zigeuner nicht mochte und der Meinung war, Deutschland sei nur für Deutsche da, der Welt nicht das Fürchten beigebracht hätte und den Deutschen — in der Folge — Gewissensbisse.

In den 40 Nachkriegsjahren richtete Berlin seine Blicke, wie ein Januskopf, auf die beiden Seiten des geteilten Landes. Und heute, da die Mauer gefallen ist, wäre es ein großer, unwiederbringlicher Verlust, wenn durch irgend jemandes orthodoxes Dekret dieser Stadt vorgeschrieben würde, daß sie alles, was das eine ihrer Angesichter gesehen und ins Gedächtnis aufgenommen hat, zu vergessen und aus ihrer Erinnerung zu streichen habe.

Heute ist eine andere Zeit. Die Menschen wollen gütiger, toleranter und klüger werden. Wir bauen ein neues Haus, das europäische Haus ohne Schlösser, Grenzen und Feindseligkeiten.

Ich möchte daran glauben, daß es Berlin bevorsteht, seine historische Rolle von neuem spielen zu können: Weil es aufgehört hat, »Endstation« zu sein, weil nun die Züge weiterfahren, sollte es seinen Reichtum dem Westen und dem Osten mitteilen, sollte es zu einer Brücke werden, über die Wege in alle Richtungen führen, Wege der Toleranz, der Güte und der gegenseitigen Achtung. Lisa Rakhlina

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