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Pidgin-Englisch statt Russisch

Fast überall im ehemaligen Sowjetreich hat sich das Englische als Sprache der politischen Transparenz durchgesetzt/ Mit dem sprachlichen Groß-Provinzialismus der Russen geht es zu Ende/ JedeR zweite Ex-Sowjet spricht russisch  ■ Von Erhard Stölting

Als Vertreter einer dominierenden Nation brauchten sich die Russen bislang verhältnismäßig wenig auf Fremdsprachen einzulassen. Überdies waren Auslandsaufenthalte ein seltenes Privileg. Während sich die Ungarn überdurchschnittlich zu Vielsprachigkeit und damit Weltläufigkeit gezwungen sahen, verharrten die Russen in jenem sprachlichen Groß-Provinzialismus, der auch für Franzosen oder Angelsachsen charakteristisch ist.

Damit hat es nun ein Ende — die Russen werden Englisch lernen müssen, schon um die Fernsehberichte aus den ehemaligen Bruderrepubliken verstehen zu können. Denn überall im ehemaligen Sowjetreich hat sich das Englische als Sprache der politischen Transparenz durchgesetzt.

Die russische Kulturgeschichte ist seit dem 18. Jahrhundert zwar so reich wie kaum eine andere. Aber es gehört zu ihrer Tragik, daß sie sich der Welt immer nur verstümmelt mitteilen konnte. Der ärgerlichen Zensur der Zarenzeit folgte die verheerende sowjetische Zensur. St. Petersburg und Moskau waren große kulturelle Zentren, aber nicht für die Welt. Immer atmete es sich freier in Paris, London, New York oder Rom. Ohne die periodischen Austreibungen der Künstler und Schriftsteller hätte die Welt allerdings weniger von der ungeheuren kulturellen Produktivität Rußlands erfahren.

145 Millionen Russen lebten nach der Volkszählung von 1989 in der Sowjetunion, ca. 51 Prozent der sowjetischen Bevölkerung. Weitere 18 Millionen Sowjetbürger gaben als Muttersprache Russisch an. Russisch war darüber hinaus die Sprache der interethnischen Kommunikation. Russische Texte hatten international größere Chancen, wahrgenommen zu werden, als ukrainische oder usbekische.

In den Ländern des Ostblocks war die Situation anders. Zwar sollten alle Schüler Russisch lernen, aber bei nur wenigen hatte dies nachhaltende Wirkung. Russisch war einfach nicht chic. Eine Ausnahme machten erstens jene, die in der Sowjetunion studiert hatten, und zweitens die Bulgaren; sie hatten als einzige den Russen gegenüber keine Vorurteile. Zu einer osteuropäischen lingua franca entwickelte sich das Russische mithin kaum, und es büßte diese geringfügig ausgebildete Rolle nach den politischen Umbrüchen sofort ein. Auf den weiterführenden Schulen Osteuropas wird jetzt, wie überall auf der Welt, vor allem Englisch gebüffelt. Rod Stewart war sowieso schon beliebter als der Volksliederchor aus Omsk.

Die Begründung für die mangelhaften Russischkenntnisse war immer die gleiche: Russisch sei die Sprache der verhaßten Hegemonialmacht und ein Symbol für Sozialismus und Barbarei schlechthin. Es steckte in der Antipathie aber auch eine typisch mittel- und osteuropäische Marotte, das zivilisierte Europa an der jeweiligen eigenen Ostgrenze enden zu lassen — am Rhein, an der Elbe, an der Oder, am Bug usw. Hinter dem vielbeschworenen Wunsch einer „Rückkehr nach Europa“ steckte auch das Angebot, den Westen vor den andrängenden asiatischen Horden zu schützen.

Die Barbaren jenseits der eigenen Landesgrenze bedienten sich unaussprechlicher, schwer zu erlernender und ununterscheidbarer Sprachen. Den Ruf eines kultivierten und gebildeten Menschen vermitteln schließlich nur Kenntnisse des Englischen, Französischen, Italienischen und vielleicht noch des Spanischen. Deutsch dagegen ist dubios. Und wer eine osteuropäische Sprache als Fremdsprache erlernt hat, ist nicht gebildet, sondern Spezialist. Das Russische war und ist vorletztes Glied in einer Kette, die mit dem Tataro-Türkischen endet.

Dieses Prestigegefälle erklärt auch den Gedächtnisschwund in den ehemaligen Sowjetrepubliken. Erstaunlich viele Balten, ja selbst Ukrainer, haben in wenigen Monaten ihre einst sehr guten Russischkenntnisse eingebüßt. Statt dessen ist eine Sprache auf dem Vormarsch, die außerhalb der angelsächsischen Welt für englisch gehalten wird. Noch bevor die wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten gemeistert sind, scheint die Umstellung auf das unentbehrliche internationale Verständigungsmittel zu funktionieren — auf das Pidgin-Englisch.

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