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33.000 CAMRAISTEN GEGEN SPRUDELNDE HÜHNERPISSE Von Ralf Sotscheck

Wir standen an der Theke der Scotia Bar, Glasgows ältester Kneipe aus dem Jahr 1792, und Rodney fragte: „Was willst du trinken?“ Ich machte den ersten Fehler: „Ich nehme das gleiche wie du.“ Rodney bestellte zwei Theakstons Best Bitter, die in Sekundenschnelle serviert wurden. Das machte mich mißtrauisch. Zu Recht. Ich probierte vorsichtig von der schaumkronenlosen Brühe und flüsterte Rodney zu: „Das Bier ist schal.“ Das war der zweite Fehler. Rodney drehte sich um und rief lauthals durch die Kneipe: „Hört mal, der Typ behauptet, das Theakstons wäre schal!“ Und dann zu mir gewandt: „Das liegt daran, daß du nur Hühnerpisse gewöhnt bist. Das hier ist ein richtiges Bier.“

Ich hätte es ahnen müssen: Hinter Rodneys freundlichem Äußeren verbarg sich ein knallharter Camraist. „Camra“ ist die „Campaign for Real Ale“, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Leute wie mich zu konvertieren. „RealAle“- Trinker sind wie Missionare, und eine Beleidigung ihres obergärigen Getränks ist Blasphemie. Camra wurde 1971 gegründet und hat heute 33.000 Mitglieder in Großbritannien. Ein Großteil davon befand sich offenbar ausgerechnet in der Scotia Bar. Eine wunderbare Kneipe übrigens: Sie ist Hauptquartier der radikalen linken Schriftsteller Glasgows und war 1990 Zentrum des Widerstands gegen das Europa-Kulturhauptstadt-Brimborium. Doch jetzt kamen sie aus dem Nebeldunst, der unter der extrem niedrigen Decke hing, auf mich zu. „Du hast ja keine Ahnung von Bier“, behauptete ein Weißhaariger. „Das ist die traditionelle britische Brauart. Das Bier wird nicht pasteurisiert oder gefiltert, sondern gärt im Faß weiter. Das braucht keine zusätzliche Kohlensäure.“ Das sah ich anders, behielt meine Meinung angesichts der Camra-Übermacht jedoch für mich.

In den 50er und 60er Jahren gaben die meisten Brauereien die traditionelle Brauart auf und produzierten statt dessen ein dünnes und geschmacksneutrales helles Bier, das sogenannte „Lager“. Camra hat jedoch dafür gesorgt, daß der Marktanteil von „Real Ale“ heute wieder bei 15 Prozent liegt. Rodney hatte es sich in den Kopf gesetzt, diesen Prozentsatz umgehend zu erhöhen. „Versuch doch mal ein anderes Bier, zum Beispiel Greenmantle Ale.“ Ich machte den dritten Fehler. Im Handumdrehen stand die trübe Suppe vor mir, die so schmeckte, als ob sie drei Tage offen im Kühlschrank gestanden hätte. Dazu reichte mir der Wirt eine kleine Broschüre: „The Dear Green Pint“, ein „Real Ale“-Führer für Glasgow, durch den sich wie ein roter Faden Gemeinheiten gegen Leute zogen, die noch nicht erleuchtet waren. Im Anhang befand sich ein Camra-Beitrittsformular. Mit der Unterschrift wurde man nicht nur 14 Pfund los, sondern unterwarf sich auch den Gesetzen der Kampagne. „Jeden Tag ein Real-Ale-Vollrausch für die gute Sache“, erklärte Rodney. Inzwischen hatte ich auch das Greenmantle Ale mit Hilfe eines schottischen Whiskys heruntergespült, was mir ungeahnten Mut verlieh. Ich bestellte laut und deutlich ein Glas Hühnerpisse und erhielt anstandslos ein Lager. Rodney, der offenbar befürchtete, man könnte ihn für mich haftbar machen, murmelte entschuldigend: „Na ja, er ist Ausländer.“ Er sah staunend zu, wie ich das Helle freiwillig in mich hineinschüttete. Zugegeben, britisches Lager-Bier ist wirklich das Letzte — aber wenigstens sprudelt es.

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