: Moslemische Dialektik
Fatema Mernissi über die islamische Angst vor der Moderne, die Frauendiskriminierung und die Anfänge der Bürgerrechtsbewegung im Maghreb ■ Von Sabine Kebir
Empört über die vielen europäischen Frauen im Saal, die die Demokratie auf den Abfallhaufen der Geschichte werfen wollen, weil sie ihnen angeblich nichts gebracht hat, schwenkt die Dame aus Marokko, die neben Alice Schwarzer auf dem Podium sitzt, ihr Fotoetui durch die Luft. Was meint sie wohl damit? — fragen wir uns. „Dies kleine Ding — die Wahlurne — ist die genialste Erfindung, die ich kenne! Ich will endlich auch von ihr profitieren! Und pardon — es waren nicht die Chinesen, nicht die Japaner und nicht die Araber, die sie erfunden haben, das wart ihr, die Europäer!“ So Fatema Mernissi auf der Eröffnungsveranstaltung der 3. Orienttagung im Frühjahr in Berlin (im Haus der Kulturen der Welt), in deren Verlauf sie auch ihr neuestes Buch über die moslemische Angst vor der Moderne. Frauen und Männer zwischen Islam und Demokratie vorstellte.
Schon auf den ersten Seiten macht sie darin klar, daß sie keineswegs eine blinde Anbeterin des Westens ist — wie ihr nicht nur daheim vorgeworfen wird. Der Westen, so schreibt sie, bringt uns nicht nur Demokratie, sondern immer noch und immer wieder auch Bomben. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist der Golfkrieg, der den moslemischen Ländern in schmerzlicher Eindringlichkeit ihre Unterlegenheit gegenüber dem Westen gezeigt hat. Wie war es möglich, fragt Mernissi, daß ein großer Teil der islamischen Volksmassen nicht nur Saddam Hussein unterstützte, sondern auch fest an seinen Sieg glaubte?
Sei die Selbstüberschätzung mit religiös bedingtem Gottvertrauen zu erklären, so weise das Ausmaß der Niederlage selbst auf die massive Unterdrükkung all jener Fähigkeiten und Talente hin, die den Menschen des Westens derzeit die Beherrschung der Welt ermöglichen: Erziehung zur Kreativität und Mündigkeit. Diese Fähigkeiten werden freilich nicht nur im politischen System der Demokratie erlernt, sie erfordern auch eine hochentwickelte Form der Volksbildung. In den islamischen Ländern herrschen dagegen diktatorische Systeme vor, und die kreative Intelligenz befindet sich zumeist in politischem Exil in Europa oder USA. Den großen Massen wird eine Schulbildung geboten, die vor allem religiös ausgerichtet ist, in der weder genug moderne Naturwissenschaft erlernt noch eigene Meinungsbildung gefördert wird.
Die antiwestlichen Strategien des islamischen Fundamentalismus richten sich gerade an diese schlecht ausgebildeten Menschenmassen und rufen sie zur Herstellung einer mythischen Einheit auf, in der weder die Kreativität des Einzelnen noch seine Mündigkeit — das heißt sein Widerspuchsrecht — eine Rolle spielen soll. Gewinnt diese Tendenz weiter, sieht Fatema Mernissi auf die islamische Welt Katstrophen vom Ausmaß des Golfkrieges zukommen.
Mit diesen Positionen gehört sie zu den „Modernisten“ unter den arabischen Intellektuellen, bricht aber mit deren Gewohnheit, die Notwendigkeit der Modernisierung allein aus der gegenwärtigen Existenzkrise der islamischen Länder herzuleiten. Wie die Fundamentalisten versucht sie, die Tradition, das heißt die religiösen und historischen Quellen abzufragen, wenn auch nicht, um aus ihnen die Schlagworte für die mythische Einheit zu gewinnen. Sie möchte vielmehr Aufschluß über das kollektive Unbewußte der Moslems bekommen. Wie in der Geschichte aller menschlichen Zivilisationen finden sich auch hier zwei Traditionslinien — die der autoritär hergestellten Einheit und die des Widerstands, das heißt des Individualismus —, theoretisiert z.B. von der Sekte der Charidjiten aus der Anfangszeit des Islam. Die Kenntnis und das Abwägen beider Linien könnte den Moslems helfen, die Möglichkeiten sowie die Blockaden auf dem Weg in die Moderne zu definieren.
Die Begründung der islamischen Zivilisation durch Mohamed war ein Akt der Überwindung des extremen Individualismus der Stämme der arabischen Halbinsel. Sie beteten nicht nur alle verschiedene Götter an — deren mächtigste übrigens weiblich waren —, sie lebten auch nach jeweils verschiedenen Kalendern. Mohamed führte den Monotheismus und einen für alle verbindlichen Kalender ein, der nach den objektiven Kriterien des Laufs der Gestirne funktionierte. Insofern ist der Koran durchaus eine Grundlage für Herrschaft, die Zersplitterung überwindet und auf Einheit hin orientiert.
Dennoch — so meint Mernissi — lassen sich weder die gegenwärtigen noch die von den Fundamentalisten angestrebten diktatorischen Herrschaftssysteme durch den Koran rechtfertigen. Zumindest in seiner sunnitischen Auslegung verneint der Islam nämlich die Unfehlbarkeit menschlicher Herrschaft. Nur Allah ist unfehlbar, und eine Vermischung von Göttlichem und Menschlichem — wie wir sie in der Gestalt von Jesus Christus kennen — gilt als Blasphemie. Insofern räumt der Koran der Gemeinde durchaus ein Widerstandsrecht ein, wenn der Imam ihren Interessen nicht mehr dient. In der Wiedergewinnung der Konzeption des von der Gemeinde abhängigen und absetzbaren Imams sieht Mernissi einen der wesentlichen Antriebe, die die Moslems heute zu einer modernen Form der Demokratie führen könnten.
An späteren Geschichtsetappen zeigt sie, daß die Zeiten des historischen Erfolgs auch Zeiten der politischen und religiösen Toleranz waren, in denen sich die islamische Kultur anderen Einflüssen öffnete und Kreativität und Individualismus zuließ. Die Zeiten autoritärer Herrschaft und der Verteufelung fremder Einflüsse bedeuteten dagegen zivilisatorischen Niedergang. Wenn sich die Moslems über diese Dialektik ihrer Geschichte klar würden, erschiene ihnen die Demokratie und ihre Grundpfeiler Toleranz und individuelle Kreativität nicht mehr nur als westliche Importprodukte.
Im Kampf der moslemischen Frauen um Gleichberechtigung in der Gesellschaft erkennt Fatema Mernissi bereits die Grundstruktur für den Kampf um die allgemeine Demokratisierung. Die Frauen wollen als anerkannte Individuen in der Gesellschaft schöpferische Funktionen ausüben. Welche kollektiven Traumata — fragt sie — stehen diesem Prozeß bislang entgegen? Worauf gründet sich die sprichwörtliche Angst der moslemischen Männer vor einer Teilhabe der Frauen am öffentlichen Leben? Wieso war die erste Reaktion islamischer Herrscher bis hin zu den heutigen Fundamentalisten auf Krisen in der Geschichte stets das Alkoholverbot und eine drastische Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Frauen? Liegt der Grund darin, daß die Moslems bis heute das vorislamische Chaos bei den Stämmen der arabischen Halbinsel mit den zum Teil blutrünstigen alten Göttinnen identifizieren? Gilt ihnen die Frau insgeheim nicht nur als unberechenbare Herrscherin über das Leben, sondern auch den Tod?
Für uns EuropäerInnen ist es interessant zu erfahren, daß den Frauen im islamischen Raum traditionell weniger das Wissen, sondern vor allem die vollen Bürgerrechte versagt werden. Freilich ist ihnen erst seit dem Ende der Kolonisierung, das heißt etwa seit drei Jahrzehnten, der Zugang zu den Universitäten möglich. Bereits heute ist ihr Anteil am Professorenpersonal gleich und höher als in der westlichen Welt. Während er Mitte der achtziger Jahre in Frankreich bei 23Prozent, in den USA bei 24Prozent und in Japan bei zehn Prozent lag, waren in Pakistan 25Prozent, in Algerien 24Prozent und in Ägypten 28Prozent des Hochschulpersonals Frauen. Und man höre und staune: Saudi-Arabien hat den größten Anteil an weiblichen Hochschullehrerinnen, nämlich 32Prozent — die auf Grund der Geschlechtertrennung im gesamten Bildungswesen freilich nur Frauen unterrichten. Noch
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frappierender sind die prozentualen Anteile an weiblichen Hochschullehrerinnen, nämlich 32Prozent — die auf Grund der Geschlechtertrennung im gesamten Bildungswesen freilich nur Frauen unterrichten. Noch frappierender sind die prozentualen Anteile unter den Studierenden in der ganzen moslemischen Welt. Und von ihnen, den diplomierten Frauen — gleich ob verschleiert oder nicht —, geht nach Fatema Mernissi der wesentliche Druck zur Demokratisierung aus. Selbst studierte Frauen, die in die Küche verbannt werden, nehmen nicht mit derselben Gleichmütigkeit ihr Schicksal hin wie Analphabetinnen. Und sie, die Mittelklassefrauen, die ihren Platz in der Öffentlichkeit einfordern, sind es auch, die gegenwärtig am erbittertten von den Fundamentalisten angegriffen werden.
Daß es in den moslemischen Ländern neben der fundamentalistischen auch eine Bewegung für die Demokratisierung gibt, zeigt die seit Ende der achtziger Jahre in allen Maghreb- Staaten — außer Libyen — erfolgte Gründung von Menschenrechtsorganisationen und der zunehmende Bekanntheitsgrad der UNO-Charta für Menschenrechte.
Der Golfkrieg mit seinem gewaltigen Verschleiß an Rüstungsgütern habe — so Fatema Mernissi — bei den islamischen Volksmassen zum ersten Mal die Ahnung notwendiger Abrüstung und Demokratisierung aufkommen lassen. Vielen sei klar geworden, daß die über die Medien bekannt gewordenen Summen, die der Irak und Kuwait für den Krieg aufgebracht haben, besser eingesetzt worden wären für die Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit und Bildungsnotstand im ganzen islamischen Raum. Bei den großen Demonstrationen in Marokko während des Krieges schrien die Menschen immer wieder: „Ma sa'lunasch! — Wir wurden nicht gefragt!“ und „Al quarar quararuna! — Die Entscheidung ist unser!“
Fatema Mernissi: Die Angst vor der Moderne. Frauen und Männer zwischen Islam und Demokratie. Aus dem Französischen von Einar Schlereth, Luchterhand Verlag, 266Seiten, geb., 38DM.
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