Der längste Hals der Wende

■ »Schlehweins Giraffe« von Bernd Schirmer

Am meisten stört ihren neuen Besitzer, daß die Giraffe beim Fernsehgucken statt der Lautstärke immer die Programme verstellt, denn der Besitzer ist zu faul, deshalb jedesmal auf die Leiter zu steigen. Dabei hat er gar nichts anderes zu tun, denn sein Arbeitsplatz bei Sero ist längst abgewickelt: Statt Flaschen sammelt er jetzt Worte für einen Schriftsteller und versucht, der Giraffe das Reden beizubringen. Ein Freund des Flaschensammlers hat das Tier im letzten Augenblick — es handelt sich um eine Altlast — aus einem Zirkus befreit, der einst womöglich auch vor dem Politbüro aufgetreten ist. Der Freund hatte sie erst auf seinem Hof im Oderbruch untergebracht, doch dann mußte er plötzlich weg und dachte, sie sei in der hohen Parterrewohnung des Sammlers im Prenzlauer Berg bestens untergebracht.

Tatsächlich wundert sich niemand, wenn die beiden gemeinsam im Kiez spazierengehen, denn jetzt hat jeder genug zu tun, und wundern könnte man sich andererseits jede Minute, wenn man es denn noch wollte. Zum Beispiel über die alten Bekannten des Sero-Sammlers, die früher an dicken Schreibtischen saßen und jetzt hinter wackligen Friteusen stehen oder proppere Ausflugslokale in Kleingartenkolonien eröffnen. Nichts ist mehr, wie es war im Nachwende- Ost-Berlin, und eine Giraffe ist da noch eins der kleineren Übel, die man sich in dieser Situation einfangen kann.

In Bernd Schirmers Erzählung wird sie zur Metapher für den Wahnsinn der Wende und zum rettenden Strohhalm für ihren neuen Besitzer: Ohne sie wäre das Leben jetzt völlig sinnlos, und sie bewahrt ihn vor der bestens bekannten Jämmerlichkeit. Schirmer dreht mit seiner Kunstfigur Giraffe die tragischen Realitäten des neudeutschen Alltags ins Melodramatische. Das ist unterlegt mit dem unentwegten Bedauern über den Verlust der »guten« Seiten der DDR, denen der Autor ganz selbstverständlich nachtrauert, egal ob es sich um Errungenschaften des Sozialismus handelt oder ob sie eher aus dem Widerstand gegen denselben entstanden sind. Schon daß einer bei Sero arbeitet, obwohl er doch Akademiker werden wollte, ist ein Kennzeichen einer typischen DDR-Biographie. Über die verfügt auch der Autor Bernd Schirmer, der sich etwas anderes bewahrt hat: einen klaren und sehr plastischen Schreibstil.

Am Ende behält der Sammler die Giraffe — typisch DDR. Schirmer wiederum ist mit seiner Giraffe der gesamtdeutsche literarische Durchbruch gelungen. Auch sie besitzt eine typische DDR-Eigenschaft: nett. Lutz Ehrlich

Bernd Schirmer, »Schlehweins Giraffe«, Eichborn-Verlag.