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Vati ist eigentlich ein Zombie

■ Kunst in Berlin jetzt: Michael Sellmann, Frank Thiel, ASA („Kitty Genovese“) und Mathias Goeritz

Für die einen ist das Thema so stark, daß es wie eine Idee das künstlerische Werk durchzieht; für die anderen ist es eine Idee, Ideen zu haben. Michael Sellmann gehört zu diesen. Seine Ausstellung ist ein, etwa auf den anderthalbten Blick, beeindruckendes Ensemble an Geklebtem, Gebautem und Gestelltem, eine jede Arbeit für sich eine etwas wehmütige Variante auf Dekoration, Verpackung, Erinnerung, oder auf eine Art, Kunst zu machen.

Sellmann vergleicht. Ungleiches erscheint ähnlich, Ähnliches schwer vergleichbar. Die kleine, gräuliche und gerasterte Fotografie eines Mannes im Boot wird in einer quadratischen Fläche grau marmorierten Linoleums fast zum Verschwinden gebracht. Neben der körnigen Fotografie eines Rückens wird ein verwaschenes Blech plaziert, das die Vertiefung zur Wirbelsäule hin wie zufällig nachstellt – beide Objekte in einem schlichten, aber eigenwillig geformten alten Bilderrahmen. Auch die Rahmen gehören zu seinem System von Referenzen: der Abfall beim Wiedergebrauch eines alten Rahmens, die Pappen, hat Sellmann gesammelt und zu einem nicht ganz regelmäßig (von klein zu groß) wachsenden Schrein zusammengestellt. Der Systematik ist eine Persiflage auf das Systematische unterlegt.

Trotz der Referenzen nach außen (wie macht man was?) ist das System nach innen geschlossen, und zwar durch die Farben: beige, eierschalen, sandfarben, schwarz. Vergilbtes, Gelbes, mattes Blau: aus den Küchen der Vorkriegszeit, oder aus der Erinnerung an eine Kindheit, die in den fahlen Farben geblitzter Dias versinkt.

Neuer Berliner Kunstverein, Kurfürstendamm 58, bis zum 2.1.1993

In Berlin ist die Soz-Art durch Fotografen vertreten: Ulrich Wüst, Matthias Leupold, Frank Thiel. Thiel hat mit seiner neuesten Arbeit, einer Serie riesiger Bilder von Gefängnistoren- und türmen, den Schritt zur Farbe getan. Die Metalltore werden frontal aufgenommen, das Bildformat auf die Tore und ihre unmittelbare Einfassung begrenzt. Die Begegnung mit dem Gegenstand ist notwendig massiv; der allegorische Effekt (Tor zum...) wird gänzlich ausgespart, der metaphorische verstärkt: Jedes Glänzen ist ein „falsches“ Glänzen, jede Düsterkeit verräterisch. Die Tore der Knäste im Westen sind High-Tech, die der (stillgelegten) Knäste im Osten schäbig. Wirklich eindrucksvoll ist Thiels Wachturm des Gefängnisses Hohenschönhausen: Das nicht einmal verputzte Mauerwerk, die in den Turm grob eingefügten dunklen Fenster. Reste einer perfekt gemeinten, aber irgendwie dumpf gebliebenen Gewalt. Die Fotografie, 2 Meter 45 hoch, bringt die Dinge (als „Indizien“) zum Greifen nah: den Zaun, die Stahltür im Gemäuer, den Sicherungskasten, das blasse Unkraut. Die Qualität der Abbildung, Wahl der perspektivischen Mittel und Größe der Fotografie verschaffen dem Wachturm etwas Anthropomorphes. Das Objekt als Mensch, jemand, der stark ist, nicht alt, aber verwittert und verkrüppelt, zu nichts Gutem mehr zu gebrauchen. Aber da. Wie die Mielkes und die Nazis.

Galerie Zellermayer, Ludwigkirchstraße 6, Berlin 15, bis zum 16. Januar 1993. Mo. und Sa. 11-13, Di.-Fr. 12-18.30 Uhr.

Internationales Künstlergruppentum, Vages, Politisches, Dokumentarisches und Zynisches sind ziemlich angesagt. So ist auch der Beitrag der Gruppe ASA zur „Richtig '92“-Reihe des Friseurs der Botschaft zu verstehen. Vorgeblich handelt es sich um eine „Rekonstruktion“ des Mordes an einer Frau namens Kitty Genovese am 13. März 1964 in Queens. Vier große Fotografien, die das Bleigrau ungefährer Reproduktion atmen, zeigen in An- und Aufsichten jenen Häuserblock, in dem Genovese wohnte, und erklären mit Nummern und Schildchen den Ablauf des Überfalls, der in drei Phasen eine halbe Stunde gedauert haben soll und an dessen Ende die junge Frau, auf den vielleicht dreißig Metern zwischen Parkplatz und Haustür, in der späten Nacht unter dem Messer eines Mörders ohne Motiv den Tod fand.

Nicht die Grausamkeit der Tötung hat den Fall „berühmt“ gemacht, sondern die Um-stände: 38 Leute hatten, aus erhellten und dunklen Wohnungen heraus, die Tat beobachtet, ohne konkret oder indirekt zu helfen. In der Sozialpsychologie hat dies zu einer Flut von Veröffentlichungen über den bystander geführt, den passiven Zeugen einer gewaltsamen Situation. Die US-Literatur zum Thema wird beim „Friseur“ mit Computerausdrucken dokumentiert.

In einem weiteren Raum läuft eine Diaprojektion, eine Textkette zum Thema „Masse – Unfall– Angst“, durchmischt von Aufnahmen von Leuten im herbstlichen Berlin, gehend und wartend, verwischt und düster. Über die Anlage läuft, im bedrohlich rollenden Gitarrenidiom à la Doors, „The Pink Room“ aus „Twin Peaks“. Womit sich Ed van Megen als Agent der ASA, die für die Installation verantwortlich ist, von Kitty Genovese allerdings weit entfernt hat. Ihr Fall sagt uns, jedenfalls wenn es nach den hier präsentierten Quellen geht, nichts über die Gaffer von Rostock, wie van Megen meint. Eher versucht er über den bystander die Gewalt zu generalisieren, in einem Bilder-Pool zu baden; es ist diese Warholsche Lust an der Ambivalenz gerade des vermeintlich Eindeutigen. Wie wir wissen, sollen wir alle geschlachtet werden, Vati ist eigentlich ein Zombie und so weiter.

Association for Strategic Accidents: „Kitty Genovese“. Friseur in der Botschaft, Kronenstraße 3. Freitag und Samstag ab acht bis spät in die Nacht; am Sonntag, dem 13., von 16 bis 19 Uhr.

Es ist vielleicht nicht das letzte Mal, daß Mathias Goeritz entdeckt oder wiederentdeckt wurde: zwischen Malerei, Skulptur, Relief, Kunst am Bau und phantastischer Architektur hat Goeritz ein Werk entfaltet, das in seinen besten Teilen nur auf Reisen zu entdecken ist; es ist immobil. Auf die Mischung der Genres im Werk antwortet die Retrospektive in der Akademie der Künste, die nur noch bis morgen zu sehen ist, mit einer Mischung in den Genres der Darstellung: Von kleinen Skulpturen und Reliefs werden Originale gezeigt; der „Türme-Raum im Landhaus Temixco“ ist im Maßstab 1:1 nachgebaut; und für das Werk des Architekten gibt es Modelle. 1915 geboren und in Charlottenburg aufgewachsen, hat Goeritz erst zur Kriegszeit Deutschland verlassen. Nach einer Zeit in Spanien kam er 1949 nach Mexiko, wo er nach der Begegnung mit der altmexikanischen Kunst sein eigentliches Werk erst beginnt. 1973 hat die Akademie den Exilanten zum Mitglied gewählt; im Sommer 1990 ist er, in Mexiko, gestorben.

Seine Generation hat ja zum Bauhaus keinen Kontakt haben können, jedenfalls nicht mehr als „rezipierend“; man fragt sich, ob Goeritz, wäre er nach Deutschland zurückgekehrt, ein einsamer Maler des Informel geworden wäre oder ob er Kontakt zur Hochschule der Gestaltung in Ulm gesucht hätte. Ganz deutlich hat er, in Mexiko, die Anwendung seiner Künste gesucht. Tatsächlich beschränkt sich das vorzeigbare oder vorgezeigte ×uvre freier Arbeiten auf wenige überzeugende Stücke: die drei Skulpturen stehender Hände, zum Beispiel: „Meine Hand“ als kahler Baum, zugleich kompakt, knorrig und verbogen (Sadebaumholz, sehr warm im Ton), eine hirschkäfermäßige Skulptur der anderen (wahrscheinlich auch eigenen) „Hand“ und „Deine Hand“, eine ebenfalls insektenhafte, aber extrem elegante Frauenhand mit ebenfalls überdehnten Gliedern (alle 1952). Was in den anderen, gewissermaßen materialsüchtigen Arbeiten in der Nähe des Informel aus dem folgenden Jahrzehnt nicht deutlich wird, nehmen die Hände vorweg: eine Position, die aus dem konstruiert Gedachten kommt und in die biomorphe Form zurückwill; eine Art Bauhaus mit Rudolf Steiner-Gewissen. Bei Herbert Bayer gibt es einen ähnlichen Konflikt (obwohl Bayer, denke ich, mit sich letztlich strenger geblieben ist); tatsächlich hat Goeritz mit Bayer Anfang der Siebziger gearbeitet, in Aspen/Colorado, wo ja bekanntlich die Welt der kargen Moderne in einen humanistischen Geldzuber gefallen ist.

Kleine Architekturen, Parks, Kunst am Bau sind Genres für Leute, die nicht ganz vorpreschen und sich nicht ganz zurückziehen wollen (zum Beispiel auf die Lehre); es sind per se kommentierende Kunstformen, Wagnisse dort, wo nicht allzuviel auf dem Spiel steht. So muß man wohl das Hauptwerk von Goeritz sehen, vor allem das „Experimental-Museum El Eco“ in Mexico City, das 1953 eingeweiht wurde, ein Gesamtkunstwerk, in das die Arbeiten anderer Künstler (wie Henry Moore) einbezogen wurden. Die Schlangen-Skulptur, ein blitzartig gezacktes Etwas, ist in der Akademie ebenfalls im Maßstab 1:1 nachgebaut. Man möchte meinen, daß Daniel Libeskind sie gekannt hat, als er das Jüdische Museum entwarf. Nicht anders als bei André Thomkins, der an gleicher Stelle und in gleichem Umfang von der Akademie gewürdigt wurde, ist auch Mathias Goeritz in großer Form, wenn er die Sau rausläßt: Das farbige, schiefe, verschachtelte Modell für das Saltiel Community Center (1973/74 in Jerusalem), mit einem Baßschlüssel als Stiege und einem Labyrinth in Braun, Rot, Rosa und Gelb ist ein wunderbarer Fun-Park in einer internationalen Formsprache; sozusagen Goeritz-Esperanto.

Ein Rückblick wie dieser ist natürlich aufwendig und lebt nicht von seiner institutionell gesicherten „Wichtigkeit“. So eine Ausstellung kommt nur zustande durch die Vertiefung in ein Lebenswerk, dessen Enden erst geknüpft werden müssen. Um so wunderlicher, daß bei dem ganzen Engagement und Aufwand in der Akademie dennoch, fast immer, eine Spur Freudlosigkeit mit einfließt (bei der Wald-Ausstellung war das nicht so): das feuchte Husten uniformierter Bewacher als Metapher einer Ratlosigkeit, die einen an jenem Ort beschleicht.

Auch der Akademie-Katalog 157: Mathias Goeritz, El Eco, hat diese altherrenhafte Behäbigkeit, ganze Konvolute zusammengetragener Erinnerungen, jede Menge belangloser Fotografien, matter Schwarzweißdruck – nicht so ganz das leuchtende Stück Kunstgeschichte, das ein solcher Katalog sein könnte und sollte. Das Manifest zur „Emotionellen Architektur“, ja immerhin ein Goeritz-Originaltext, ist im Inhaltsverzeichnis nicht zu finden. Aber es wird Gelegenheiten geben, Eleganteres vorzulegen. Leute, die sterben, sterben nicht aus.

Hanseatenweg 10, noch heute und morgen bis 19 Uhr. (Sonntag um 18 Uhr: „Concierto eco“ – ein „Konzert“ von KünstlerInnen verschiedener Disziplinen.) Katalog: 524 Seiten, 68 Mark.

Letzter Hinweis: „Picasso – Die Zeit nach Guernica 1937-1973“ in der Nationalgalerie hat täglich außer montags bis 20 Uhr geöffnet. Ulf Erdmann Ziegler

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