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Japanische Narben

Kobo Abes Roman „Das Gesicht des Anderen“  ■ Von Peter H. Untucht

Es gibt Fragen, in denen kulminiert ein Roman. Dies ist so eine: „Weshalb macht der Mensch nur soviel Aufhebens um sein Aussehen, um etwas so Belangloses wie die Haut des Gesichtes, die doch nur ein Teil der Körperhülle ist?“ Im Gegensatz zur empirischen Forschung kommt es in der Literatur vor allem darauf an, wer die Frage stellt: eine Kosmetikberaterin zum Beispiel, ein Arzt, eine Psychologin oder ein Fotograf. Je nachdem ließe sich daraus etwa eine grelle Farce, ein tragischer Stoff, ein nüchterner Bericht oder eine schroffe Satire entwickeln. Zwar verwendet der Roman des 1924 geborenen und Anfang dieses Jahres gestorbenen Japaners Kobo Abe all diese stilistischen Möglichkeiten, aber er spielt sie an einer eher unerwarteten Person durch: an einem Mann ohne Namen und – ohne Gesicht.

Durch einen Laborunfall wurde sein Gesicht völlig entstellt. Zurück bleibt ein Trümmerfeld aus Keloidnarben, ein „Blutegelnest“, das er unter Bandagen verbirgt. Der Versuch, weiterhin ein geregeltes Leben zu führen, gerät beruflich – der Mann ist Chemiker – und privat langsam aus den Fugen. Sein Verhalten beginnt zu entgleisen; etwa als eine Kollgein, ermutigt von seinem bislang stoischen Verhalten, ihn mit einer Zeichnung Paul Klees („Falsches Gesicht“) konfrontiert, worauf er ausrastet und das Bild zerreißt: „Ich fand es unerträglich, zu wissen, daß sie mich so sah.“

Schlimmer noch der Zerfall seiner Ehe. Da seine Frau sich ihm körperlich verweigert, plant er, heimlich eine perfekte Maske zu kreieren. Ein Vorhaben, das nach zahlreichen Überlegungen, fachlichen Gesprächen, mühevollen Versuchen und herben Rückschlägen gelingt. Er trainiert den anonymen Gebrauch der Maske, führt ein Doppelleben und muß bald feststellen, daß das neue Gesicht eine eigene Dynamik entwickelt, die seine Persönlichkeit verändert. Das eigentliche Dilemma zeigt sich, als er das ursprüngliche Ziel der Maskerade, die Verführung seiner Frau, in die Tat umsetzt. Voll Eifersucht genießt und zugleich erleidet er ihre Hingabe an das „Gesicht des Anderen“ – eine Situation perfidesten Voyeurismus'. Als er seine Frau in das Geheimnis seiner Intrige einweihen will, wozu er in seinem Appartment-Versteck drei Notizhefte hinterlegt, die sie lesen soll, weiß sie schon alles...

Was dem Leser präsentiert wird, sind eben diese Notizhefte. Sie protokollieren die langsame Verschiebung eines rationalen Verstandes in den Wahnsinn. Obwohl der Stoff dies bieten würde, hat Abe jedoch keinen Reißer geschrieben. Der Roman kommt eher auf leisen, sachlichen Sohlen daher, er argumentiert regelrecht und verleitet, sich auf die abstruse Gedankenwelt des Chemikers einzulassen. Lakonisch werden seine zahlreichen Exkurse über Physiognomie, Masken, Make-up, Schauspielerei und Verführung vorgetragen. Beinahe vergißt man, wer dies sagt – und warum. Um so erstaunlicher ist der sanfte Horror, der sich einschleicht, weil die Ich- Perspektive des Erzählens immer wieder zur Identifikation mit einem Menschen ohne Gesicht zwingt; und damit zu seiner genauen Wahrnehmung der Unkenntlichkeit in einer Welt scheinbar klarer Konturen.

Die Metamorphose des Chemikers verläuft parallel zu seinen Erkenntnissen über die Bedeutung von Gesichtern für die soziale Kommunikation. Durch die These eines plastischen Chirurgen, den er frequentiert, wonach die Seele in der Haut stecke und der Physiognomie somit die Funktion eines Identitätsfensters, einer „Verbindungsstraße“ für andere zukomme, verspürt er in sich „schwarze Schatten, die sich ausbreiteten wie ein Tropfen Tusche in einem Glas Wasser“. Er fühlt sich „lebendig begraben“, denn wenn die These „stimmt, dann würde das heißen, daß ich, der ich mein Gesicht verloren habe, für immer in eine Einzelzelle eingesperrt bin, zu der es keinen Zugang gibt. Dadurch erhielte die Maske natürlich eine Bedeutung von grauenvollem Ernst. Ich mußte versuchen, aus dem Gefängnis auszubrechen – und zwar unter Einsatz meiner ganzen menschlichen Existenz.“

Dieser Einsatz erfolgt mit akribischer Konsequenz: Da er sein altes Gesicht nicht rekonstruieren will, werkelt er an der Kreation eines anderen, das, mehr noch als das frühere, seinem „Wesen“ entsprechen soll. Für diese Korrektur stellt er daher allerlei autopsychologische Studien an, verfertigt Diagramme und Formeln seiner Persönlichkeit und liest sich in die (fiktive) Typenlehre eines französischen Physiognomikers ein. Auf dessen „konvexen Typ3“ fällt schließlich seine Wahl: „knochig: sehr spitzes Gesicht mit vorspringender Nase“.

Mit der Entscheidung für einen „extravertierten, unharmonischen Menschen“, für „ein tatkräftiges, vom Willen bestimmtes Gesicht“ tritt das Unvermeidliche ein. Längst dominiert die Maske den Ablauf des Geschehens, während ihr Träger machtlos die Begegnung mit seiner Frau vorausahnt, denn „sobald sie dich einmal gesehen hatte, würde sie sich meiner Kontrolle entziehen und in unerreichbare Ferne entschwinden. Und ich konnte nichts dagegen tun, ich konnte ihr nur bestürzt nachsehen. So war die Absicht, die ich mit der Maske verfolgt hatte, ins Gegenteil umgeschlagen: Ich hatte den Sieg des Gesichts anerkannt, und wenn ich meine Persönlichkeit wahren wollte, würde ich das Maskenspiel beenden und mir die Maske vom Gesicht reißen müssen.“

Einmal, bei einem Handgemenge, verliert er tatsählich auch sein zweites Gesicht. Makabren Stolzes notiert er: „Diese Fremden hatten eine so tiefe Wahrheit erblickt, wie Augen sie selten zu sehen bekommen“, mochte sie „auch noch so schmerzhaft sein, sie trug ihren Lohn in sich“. Doch der Preis ist hart, die Erkenntnis bitter: Abes Versuchsanordnung gerät unweigerlich zm grotesken Selbstexperiment des Chemikers. Denn seine rationale Überlegenheit trudelt unaufhaltsam in den Sog ungeschriebener Gesetzmäßigkeiten sozialen Verhaltens.

Im „Land des Lächelns“ trägt das Motiv des Gesichtsverlustes eine eigene Bedeutung in sich. Obwohl fast zwei Jahrzehnte danach, schimmern die Tragödien von Hiroshima und Nagasaki wie eine Patina durch den 1964 zuerst erschienenen Roman. Am deutlichsten vielleicht in jenem Film, den der Chemiker auf der Flucht vor den Blicken seiner Umwelt zufällig in einem Kino sieht: Eine junge Frau, deren linke Gesichtshälfte hübsch und die rechte vollkommen entstellt ist, leidet unter ihrer Ausgrenzung und erhofft sich einen neuen Krieg, weil sich dadurch die Werteskala für Gesichter verschöbe!

Es ist Kobo Abe meisterhaft gelungen, das japanische Trauma universal verständlich zu machen. Dabei orientiert er sich an der Stimmung des französischen Existentialismus von Sartre und Camus, also an jenem Spannungsfeld zwischen Absurdität und zu entschlossener Handlung gereifter Erkenntnis. Doch Abes Bezugsrahmen erschöpft sich keineswegs in existentialistischen Verweisen. So erinnert die sachliche Denk- und Vorgehensweise des Chemikers streckenweise an Frischs „Homo Faber“, was auch in dem wunderbar klaren Brief seiner Frau zum Ausdruck kommt: „Ich hatte Dich in demselben Augenblick durchschaut, als Du stolz von ,Veränderungen im Magnetfeld‘ sprachst.“ Ihre Verführung hingegen ist ein Motivspiel mit dem Amphitryon-Mythos, mit der Variante, daß hier ein Anderer nicht in der Gestalt des Gatten kommt, sondern der Gatte in der Gestalt eines Fremden. Dies wiederum löst ein Eifersuchtsszenario aus, das in seiner Perfidie Parallelen zu Tolstois „Kreutzersonate“ herstellt. Die Idee, das Wilde unter der Maske des Harmlosen zu verstecken und das Harmlose gräßlich zu zeigen, ist eine Modulation vieler romantischer Schauerromane, besonders aber von Stevensons „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“. Auch zu Kafkas Werk hat Abe Pfade gelegt. Zuweilen wird dem Chemiker „die ganze Welt zu einer einzigen Strafkolonie“, ihm, der ausgegrenzt ist, wie der in ein Ungeziefer verwandelte Gregor Samsa. Und nicht zuletzt räumt die pechschwarze, makabre Geschichte ironisch mit den Theorien ganzer Physiognomie-Schulen von Lavater bis Kassner auf.

Die gut lesbar von Oscar Benl übersetzte Neuausgabe des Romans ist das literarische Prunkstück einer Reihe jüngst von Kobo Abe erschienener Werke. Dazu gehören auch die Romane „Der Schachtelmann“ und „Die Frau in den Dünen“ (beide ebenfalls bei Eichborn). Sie alle zeichnen sich aus durch eine beinahe chirurgische Sichtweise. Ob aus der Perspektive eines Insektenforschers (im „Dünenroman“) oder eines modernen Diogenes, der das Großstadtleben als „Schachtelmann“ beschreibt – stets sind die Figuren namenlose, männliche Protokollanten einer grotesken Subjektivität.

Kobo Abe: „Das Gesicht des Anderen“. Aus dem Japanischen von Oscar Benl. Eichborn-Verlag, Frankfurt/M. 1992, 230Seiten, 36DM.

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