: Zuflucht im leeren Nachbarhaus
■ Ortsbesichtigung eines Glücksfalls: 23 Künstler ziehen um
Ateliers in Berlin werden rar und rarer. Wie aus dem kürzlich vorgelegten Arbeitsbericht des Atelierbeauftragten hervorgeht, gingen von den 1.300 vorhandenen Ateliers im Laufe der Jahre 1991/92 600 durch Mietsteigerung oder Kündigung verloren. Und parallel dazu steigen die Mieten ins Unermeßliche: Lag der Durchschnittswert der Ateliermieten 1990 noch bei 4,50 DM/Quadratmeter, so wird bei Neuvermietungen mittlerweile bereits durchschnittlich 18 DM/Quadratmeter verlangt. Für die auf Ateliers angewiesenen Künstler läßt sich diese Entwicklung nur als Desaster bezeichnen.
Zudem tut sich Berlin als einsamer Spitzenreiter in minimalster Atelierförderung hervor: in Paris etwa gibt es 1.300 finanziell geförderte Ateliers, in Berlin eben mal 26. Die Situation ist verheerend, und den Berliner Künstlern wird alsbald zu empfehlen sein, in ihren Wohnküchen an Miniaturen zu arbeiten.
Und doch hat der Berliner Atelierbeauftragte bisweilen begrenzt glückliche Nachrichten: Vor einem Jahr konnten dreiundzwanzig Künstler unterschiedlichster Nationalität in ein über den BBK (Berufsverband Bildender Künstler) für ein Jahr befristet angemietetes ehemaliges Fabrikgebäude in Treptow einziehen. Unter härtesten Bedingungen hatten die Künstler den letzten Winter ohne Heizung und zeitweise ohne Wasser überstanden. Und natürlich war die irreale Hoffnung auf ein längeres Verbleiben groß, bis im April die Kündigung zum 30. Juni kam – die Abrißgenehmigung für das Gebäude am Schmollerplatz, also dort, wo Treptow, Neukölln und Kreuzberg zusammentreffen, lag dem Eigentümer vor.
Auch intensive Bemühungen der Künstler und der für sie eintretenden BBK-Vertreter, bzw. des Atelierbeauftragten konnten das Gebäude nicht retten, und so wurde ein Sommerfest nicht nur als Abschiedsfest von den Räumen und vom Mythos eines künstlerfreundlichen Berlins, sondern auch als letzter medialer Aufschrei geplant.
Und nun kam plötzlich alles anders. Irgend jemand entdeckte, daß das Nachbargebäude leersteht und schnellstens eingeleitete Recherche ergab, daß die zuständige senatseigene Gesellschaft „Stadt & Land“ bereit ist, es als Atelierräume ab 1.Juli für einen mittelfristigen Zeitraum zu vermieten. So hatte es für das Sommerfest am letzten Sonntag denn plötzlich doch noch einen rechten Grund zu feiern gegeben.
In der Folge dieses seltenen Glücksfalls können nun auch eine ansehnliche Anzahl unterschiedlichster Projekte der Künstler weitergeführt werden. Aus Marseille, Göteborg und Basel liegen internationale Austauschprojekte ähnlicher Atelierhäuser vor, deren Finanzierung bereits teilweise gesichert ist. An eine Produzentengalerie in den neuen Räumen ist gedacht, und dem Bezirk Treptow sollen diverse Angebote zur Zusammenarbeit gemacht werden (beispielsweise Einladungen an Schulklassen oder Volksbildungsgruppen zu Atelierbesuchen.
Einerseits wollen die Künstler mit solchen Projekten auch der Lage ihres Atelierhauses direkt am Schnittpunkt von ehemals Ost und West gerecht werden, und andererseits bietet sich so dem Bezirk die einmalige Chance, sich in direkter Tuchfühlung mit Moderner Kunst, und wichtiger noch: ihren lebenden Vertretern, auseinandersetzen zu können. Schließlich ist das Atelierhaus mit seinen über zwanzig Künstlern das größte vergleichbare Objekt seiner Art in ganz Treptow.
Aber auch Treptow bietet Entdeckenswertes: Nicht nur ehemals staatliche, gut ausgestattete Künstlerwerkstätten oder eine Graphikdruckerei mit in ganz Berlin einmaligen Möglichkeiten wurden bisher ausgemacht, sondern auch die bezirkseigenen Galerien bieten sich zur Zusammenarbeit an. So mag, gerade in Zeiten, in denen auf Bezirksebene die Kulturpolitik sich fast gänzlich aufs Pfennigdrehen reduziert, die sich anbahnende Entwicklung für Treptow ein Lichtblick sein.
Und wer weiß, vielleicht wird ja Anfang Juli der Umzug durch eine im Treppenhaus gelegene Verbindungstür von dreiundzwanzig Künstlern ins Nachbargebäude zur Performance erklärt werden; eine nachahmenswerte Idee wär's doch: alle gekündigten Künstler ins nächste leerstehende Nachbarhaus! Fred Freytag
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