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Ein Nest? Ein Knast?

■ Internate präsentierten sich / Abhilfe bei Sozialdefiziten, Neonazis und Asthma?

Ein Nest? Ein Knast?

Internate präsentierten sich / Abhilfe bei Sozialdefiziten, Neonazis und Asthma?

Nicole ist 17 Jahre alt, geht auf ein Oldenburger Gymnasium und ist frustriert. Sie wünscht sich Lehrer, „die mal arbeiten für ihr Geld“, darüberhinaus sollen sie nett sein. Sie wünscht sich eine Schule, von der sie gefordert wird, wo keine Stunden ausfallen. Sie wünscht als „gesamter Mensch“ angesprochen zu werden. Letzten Freitag war Nicole im „Blauen Saal I“ im Bremer Marriott-Hotel, um ihrem Ziel ein Stück näher zu kommen — das Ziel heißt Internat.

Vier Stunden lang saß dort im Blauen Saal Herr Tumulka. Herr Tumulka nennt sich „Internatsberater und Karriereplaner“, seine Münchener Firma „Euro Internatsberatung“. An Tischen, die wie für eine kleine Messe aufgestellt waren, boten sich Lehrer aus norddeutschen Internaten wie der „Schule Marineau“ bei Lüneburg und der „Hermann-Lietz-Schule“ auf Spiekeroog als Gesprächspartner an.

Es ist Zeugniszeit, und da denken SchülerInnen wie Eltern öfter mal grundsätzlich über den Fortgang der Ausbildung nach. Also tingelt Herr Tumulka, der für 80 deutsche, aber auch englische und Schweizer Einrichtungen eine Art Internatsagent oder —makler ist, mit seinem „Info-Tag“ durchs Land. Bremen war die erste Station von vierzehn; Herr Tumulka ist auf bundesweit 1.000 Beratungsgespräche eingestellt.

Nicole hat auch ihre Eltern mitgebracht. Der Vater leitet ein privates juristisches Ausbildungsinstitut, die Mutter arbeitet an der Universität. Sie nagen nicht am Hungertuch. Dennoch sind sie dagegen, daß ihre Tochter aufs Internat geht. Der Grund, sagen sie, sei das Geld.

Eine angesehene Einrichtung kostet im Jahr leicht 30.000 Mark und mehr. Da müssen selbst Ärzte, Rechtsanwälte und Unternehmer erst mal schlucken, die immer noch den Hauptteil derer ausmachen, die ihre Kinder auf eins der bundesweit 312 Internate schicken. (Außerdem kann man das Geld schließlich nicht von der Steuer absetzen...)

Jörg Müller ist „Lehrer und Internatserzieher“ und vertritt in Bremen das Internatsgymnasium Marineau, wo er in einer um elf Schüler erweiterten „Familie“ lebt. Das sei eine Idylle, sagt er, fügt aber schnell hinzu: „keine Insel!“ Wohl doch: 70 ha Wald und Heide stehen zum Angeln, Reiten und Baumhäuserbauen zur Verfügung; nach Lüneburg, wo nach gesicherten Informationen die Post auch nicht gerade abgeht, sind es 26 km.

Nicht einmal das wilde Internatsleben, das wir aus Literatur und Fernsehen kennen, findet hier statt. Sagt Herr Müller. Harte Drogen: kein Thema. Weiche: immer weniger. Eine blutige Nase: Gesprächsstoff für sechs Monate. Und Zäune, über die nächtens geklettert wird? Gibt's nicht. Außerdem lohne es sich nicht, auszubüchsen, „es gibt ja nix, nicht mal eine Kneipe“.

In diesem Ambiente wachsen junge Ökos heran. Marineau steht in der Tadition der „Landerziehungsheim-Pädagogik“, einer reformpädagogischen Bewegung der Jahrhundertwende. Schulleiter Wolf-Dieter Hasenclever, Alt- Grüner aus Baden-Württemberg, legt gesteigerten Wert auf Öko- Verantwortung: Da wird der Wald entmüllt, da gibt es Demos mit „Der Dreck muß weg!“, da wird eine Altlast saniert, ein Ökotop angelegt. Vorsichtshalber betont Herr Müller: „Wir sind absolut unpolitisch!“ Die Klientel ist eher ungrün.

Institutsmakler Tumulka sieht seine Aufgabe nicht nur im optimalen Bedienen der Reichen, die ihren Sprössen mit einer Internatserziehung auf Schloß Salem die Zugheörigkeit zur Elite sichern wollen. Er kennt nämlich alle Stipendien sowie Strategien gegenüber Jugendamt und Sozialamt, um auch vergleichsweise arme Kinder in Internate zu vermitteln. So kommen 15% der Zöglinge in Marineau über ein Jugendamt. Viele Beratungsgespräche führt Tumulka mit alleinstehenden Müttern, die mit der pubertierenden Tochter nicht zurecht kommen, mit Eltern, die beide berufstätig sind und sich um das „Schlüsselkind“ sorgen, weil es Bauwagen anzündet. Das schlechte Gewissen drückt: Damit das Kind aufs Internat kann, gehen die Eltern ans Eingemachte.

Meist ist es eine Mischmotivation, die Eltern zu Herrn Tumulka treibt. Das Kind ist Schulversager trotz hohem IQ, zuhause kracht es, die Eltern haben keine Zeit — oder, wie Lehrer Mühlhan vom 65 Jahre alten Spiekerooger Hermann-Lietz-Internat erzählt — das Kind hat Asthma. Letzteres gilt natürlich nur für Nordseeinseln; warum das Asthma aber hier verschwindet, weiß Insulaner Mühlhan nicht so recht — ist es die Luft? Oder die Entfernung vom Elternhaus? Besonders in der Ein- Kind-Familie erhebt sich immer öfter die Frage, ob man das Kind nicht mal aus der erdrückenden Elternliebe befreien sollte. Das Internat, hoffen die Eltern, behebt die sozialen Defizite der Prinzessin, des Prinzen.

In letzter Zeit wird das Internat zunehmend zum Fluchtort. Schon bisher bekamen die Berater als Motive für das Interesse am Internat häufig „Gewalt und Drogen“ zu hören. Ganz neu indes ist, daß Eltern ihre Heranwachsenden vor neonazistischen Umtrieben schützen wollen — im metropolenfernen, naturnahen Internat.

Burkhard Straßmann

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