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Asbest im Parlament zerredet

■ Asbest-Kranke als Zuschauer in der Bürgerschaft - was Politiker ihnen zu sagen haben

Was ist Asbestose? Auf der Zuschauertribüne der Bürgerschaft saßen gestern elf ältere Leute aus der Selbsthilfegruppe, die davon erzählen können. Herr Radloff zum Beispiel, früher Schweißer auf dem Vulkan, seit seinem 48. Lebensjahr erwerbsunfähig geschrieben, Asbest. Die Anerkennung als Berufskrankheit wurde verweigert.

Oder Herr Grundwald, 33 Jahre lang bei Klöckner, jahrelang mit Asbest. „Jeder, der zwei Jahre lang im feuerfesten Anzug gesteckt hat, hat das“, sagt er, „Wo ist die Totenliste?“ Seine Asbest-Schicht in der Lunge ist anderthalb Zentimeter dick, handtellergroß. „Ich lebe von Cortison“. Und vom Sauerstoffgerät, jeden Abend muß er dran. In Urlaub fahren darf er nicht. 1977 hat ihn der Arzt der Berufsgenossenschaft zuletzt gesehen, 1991 hat er, sagt Grunwald, vom Schreibtisch aus diagnostiziert: keine Berufskrankheit, sondern Folgen von Heimwerkerei mit Asbest, also selber schuld. Grunwald ist heute noch sprachlos. Sein Leidensgenosse Radloff: „Sie können das Wort menschenverachtend ruhig verwenden.“

Auf der Totenliste müßte seit 1993 Herr Bollmann stehen. 1948 bis 1965 hat er bei Toschi gearbeitet und Asbest-Gegenstände hergestellt, seit 1972 ist die Asbestose medizinisch festgestellt. Jährlich war er zur Untersuchung bei dem Lungenfacharzt Dr. Demedts in Gröpelingen, zuletzt 1992. Kein Antrag auf Anerkennung als Berufskrankheit. Am 8.4.1993 war Bollmann im Krankenhaus zur Untersuchung, erzählt seine Witwe, aufgrund dieser Untersuchung wurde die Berufskrankheit umgehend anerkannt. Drei Monate später starb ihr Mann - die Rente von der Berufsgenossenschaft (BG) kam für den Toschi-Arbeiter zu spät. Asbest-Opfer Grunwald über die von der BG als Gutachter anerkannten Ärzte: „Die machen 10 Gutachten pro Tag, pro Gutachten verdient man 1500 Mark.“

Von diesen Schicksalen war in der Bürgerschaftsdebatte nur etwas in der Rede der Grünen Christine Bernbacher zu spüren. Sie hatte Krankenakten eingesehen und mit Betroffenen gesprochen. Ihr Fazit: Der übermächtigen Berufsgenossenschaft seien die Betroffenen hilflos ausgeliefert. Sie forderte die Arbeits- und die Gesundheitssenatorin auf, sich mit den Berufsgenossenschaften und den Gewerkschaften an einen Tisch zu setzen und darüber zu reden, wie insbesondere die Unabhängigkeit der Gutachter gesichert werden könnte. Bisher ist die Berufsgenossenschaften so sehr „Herrin des Verfahrens“, daß sie nicht einmal mitteilen muß, wieviele Asbest-Kranke sie als Berufserkrankungen anerkannt hat.

Der CDU-Abgeordnete Schulte zu Berge forderte, strittige Einzelfälle mit Berufsgenossenschaften zu klären. Das habe sie versucht, konterte Bernbacher, „die sind da unbelehrbar“. Das ärztliche Gutachtenwesen sei „mindestens dubios“, und „die Berufsgenossenschaften tun alles, um sich vor Entschädigungszahlungen zu drücken“. Schulte zu Berge verwies daraufhin auf die Tatsache, daß die Ausschüsse der Berufsgenossenschaften paritätisch mit Arbeitnehmer-Vertretern besetzt sind. Zu diesem Punkt blieben die Reden aus den Reihen der SPD erstaunlich allgemein. Der Abgeordnete Gerd Fischer, langjähriger Betriebsrat, schlug den Bogen bis hin zur Gesundheitsschädigung am Arbeitsplatz durch Vibration und Zugluft. Und die Arbeitssenatorin Uhl las am Ende der lebendigen Debatte aus ihrem Manuskript Grundsätzliches vor: was Asbest ist und daß die Gefahren eigentlich seit 1936 bekannt sind. „Ich gehe nicht so weit zu behaupten, die Berufsgenossenschaften würden die Anerkennungsverfahren verzögern, um Entschädigungen zu sparen“, las sie, „aber die Verfahren dauern unzumutbar lange.“ Dazu hatte sich auch Fischer erklärt: „Das stimmt mich bedenklich.“ K.W.

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