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Die Zerstörung des Viertels begann zu „Friedenszeiten“

Im Spreebogen, jetzt noch städtisches Brachland und künftiger Standort des Regierungsviertels, stand einst das mondäne Alsenviertel  ■ Von Jürgen Karwelat

Wenn in voraussichtlich zwei Jahren in der neuen alten Hauptstadt Deutschlands die ersten Bauarbeiten für das Regierungsviertel neben dem Reichstag beginnen, dann werden sich Bauwagen und Kräne in einem Viertel bewegen, wo die wechselvolle Geschichte Berlins viele Spuren hinterlassen hat, ohne daß dies auf den ersten Blick zu bemerken ist. Dort, wo heute im Spreebogen auf weiten Rasenflächen neben dem Reichstag provisorische Fußballtore auf- und Picknickkörbe abgestellt werden, befand sich bis 1945 eines der mondänsten Wohnviertel Berlins, das Alsenviertel, verlängert durch die Alsenbrücke über die Spree hinaus.

Bald nach dem Sieg gegen Dänemark im Frühjahr 1864 und dem Sieg über Österreich 1866 erhielten zahlreiche neu zu bauende Straßen draußen vor dem Brandenburger Tor Namen, die an die Kriege gegen den dänischen König und die österreichische Doppelmonarchie erinnern sollten. Nach einem königlichen Erlaß vom 10. Januar 1867 sollte ein neues, luxuriöses Wohnviertel gebaut werden. Aus der Sandwüste, die dem preußischen Militär als Übungsplatz diente, wurde am 15. Dezember 1866 der „Königsplatz“ (später Platz der Republik). Alte Holzplätze wurden Bauland für Stadtvillen von Bankiers, Fabrikanten, Großgrundbesitzern und Neureichen. Alsenstraße, Moltkestraße, Bismarckstraße und Roonstraße erhielten ihre Namen. Mit dem 1867 am Rande des Viertels errichteten Generalstabsgebäude und der 1873 eingeweihten Siegessäule, die in die Flucht der Alsenbrücke und Alsenstraße gestellt wurde, erinnerte das Alsenviertel an die Kriege von 1864 und 1866.

Spurensuche nach der dänischen Botschaft

In der Berliner Kalkreuthstraße befindet sich das Landesarchiv. In Tausenden verstaubter Akten kann man die Geschichte Berlins bruchstückhaft nachlesen. Vieles ist in den Flammen des Zweiten Weltkriegs vernichtet worden. Die Akten zum Alsenviertel sind aber noch vorhanden, jedenfalls zum großen Teil. Bauakten kommen dann ins Archiv, wenn die Häuser nicht mehr stehen – und im alten Alsenviertel steht nur noch das Gebäude in der Fürst-Bismarck- Straße 4, das Schweizerische Generalkonsulat. Im Zweiten Weltkrieg ist diese Wohngegend, wie viele andere, ausgebombt worden.

Dummerweise ist die Hauptakte über die Alsenstraße 4, der früheren dänischen Botschaft, verschwunden. Aber immerhin, aus der Akte „Kanalisation“ läßt sich einiges ersehen. 1868 war das Haus wie einige weitere im sogenannten Brandenburgertorbezirk von den Architekten Ende und Böckmann entworfen worden. Der Rentier und frühere Kaufmann Fellinger war der Bauherr. In den achtziger Jahren erwarb schließlich der Bankier Alexander Loewenherz das Haus Alsenstraße 4 und wohnte um die Jahrhundertwende mit seiner Familie auch selbst dort, zusammen mit dem Portier Knoflen, dem Dienstmädchen Fräulein Benthin und den Köchinnen Fräulein Müller und Anna Preuß. Teile des Gebäudes waren allerdings auch vermietet, so zum Beispiel an die Dänische Gesandtschaft.

Im Jahr 1900 hatten sich außerdem auch der Bankdirektor Magdeburg, der Rentier Rosenfeld und der Geheime Regierungsrat Schütte dort eingemietet. Das „Hand- und Adreßbuch für die Gesellschaft Berlin, Charlottenburg und Potsdam, 1891–92“ gibt außerdem Aufschluß, daß der Eigentümer Herr Loewenherz im Sommer in Groß-Lichterfelde, Drakestraße 81, anzutreffen war und daß im 2. Stock einer der berühmtesten deutschen Politiker der damaligen Zeit gewohnt hat: der ehemalige Staatsminister Rudolf Delbrück, langjähriger Vertrauter und Mitarbeiter Bismarcks, der verantwortlich zeichnete für die Verfassung des Zweiten Deutschen Reiches. Als Alexander Loewenherz am 24. April 1912 starb, hinterließ er seiner Frau Jenny nicht nur das Haus Alsenstraße 4, sondern auch ein stattliches Vermögen. Jedenfalls schreibt Rudolf Martin in seinem „Jahrbuch der Millionäre in Berlin“ Frau Jenny ein Vermögen von drei Millionen Goldmark und ein Einkommen von jährlich 180.000 Mark zu. Damit wird Frau Loewenherz zwar reich, wohl aber nicht die Reichste im ganzen Alsenviertel gewesen sein.

Gleich nebenan, in der Nummer 3, wohnte 1913 Generalkonsul Paul von Mendelssohn-Bartholdy, ein Sproß der berühmten Bankiersfamilie, aus der auch der Komponist Felix Mendelssohn- Bartholdy hervorgegangen ist. Und in der Nummer 7 wohnte der frühere Großkaufmann Otto Hermann Mühlberg, der 1884 starb und über den es hieß, daß er geadelt worden war, weil er die lebensgroßen Ölporträts des Kaiserpaares im Vorsaal der Nationalgalerie gestiftet hatte. Ein Graf und Bergwerksbesitzer von Douglas wohnte laut Adreßbuch von 1900 ebenfalls in der Nummer 7, wie auch später der Obergeneralarzt Walther Stechow.

Damit ist die Liste der Reichen und Mächtigen, die im kaiserlichen Alsenviertel gewohnt haben, noch lange nicht abgeschlossen. So konnte man beispielsweise in der Roonstraße 5 Oskar Blumenthal antreffen, einen Schriftsteller, der es sogar zu einem eigenen Theater gebracht hatte. Er war lange Jahre Eigentümer und Direktor des nicht weit entfernt auf der anderen Spreeseite gelegenen Lessingtheaters. Nur drei Häuser weiter, in der Roonstraße 8, wohnte Prof. Georg Richard Lewin, Direktor an der königlichen Charité, der sich besondere Verdienste bei der Behandlung der Syphilis erworben hatte.

Einer der berühmtesten Anwohner im Alsenviertel war aber sicherlich Helmut Graf von Moltke (1800–1891), preußischer Generalfeldmarschall und seit 1858 Leiter des preußischen Generalstabes. Moltke wohnte gleich an seinem Arbeitsplatz, im Generalstabsgebäude in der Herwarthstraße/Ecke Königsplatz. Sein Wohn- und Arbeitshaus verließ er am 24. April 1891 als toter Mann. So konnte er die wenig später erfolgte offizielle Einweihung der nach ihm benannten Brücke über die Spree am Rande des Alsenviertels nicht mehr erleben.

Schaut man sich einen Berliner Stadtplan aus den zwanziger Jahren an, dann wird deutlich: Gleich in der Nachbarschaft zum deutschen parlamentarischen Machtzentrum im Reichstag hatten sich zahlreiche ausländische Vertretungen niedergelassen.

Das Alsenviertel und die Diplomaten

Im Alsenviertel zu finden waren das japanische Konsulat in der Hindersinstraße 4, die Schweizer Gesandtschaft in der Fürst-Bismarck-Straße 4, das spanische Konsulat in der Roonstraße 6 und die Botschaften der nordischen Staaten in der Alsenstraße. Die linke Seite der Straße, vom Königsplatz aus gesehen, war „fest in nordeuropäischer Hand“: in der Nummer 1 die finnische, der Nummer 2 die norwegische Gesandtschaft nebst Generalkonsulat und schließlich das dänische Generalkonsulat (Nummer 3a) und die dänische Gesandtschaft (Nummer 4).

Alle drei skandinavischen Staaten hatten sich offensichtlich nach dem Ersten Weltkrieg zusammengetan, um benachbarte Häuser für ihre Vertretungen in Berlin zu kaufen. Sowohl Norwegen wie auch Dänemark wurden 1920 Eigentümer der Grundstücke. Für den Preis von 875.000 Mark übernahm Dänemark am 27. Januar 1920 das 1.200 Quadratmeter große Grundstück von den Loewenherzschen Erben, die schon seit 1912 versucht hatten, das Haus zu verkaufen, was ihnen aber wohl wegen der Wirren des Ersten Weltkriegs nicht gelang. Die Dänen waren damit vom Mieter zum Eigentümer geworden.

Das Botschaftsgebäude ist verschwunden

Ruhige Parkanlagen können auch falsche Fährten legen. Und sogar doppelt. Da, wo dänische Konsularbeamte ihren Dienst taten, sprießen heute zähes Gras und Löwenzahn. An eine Bebauung im Spreebogen erinnert nur noch das einsame Gebäude der Schweizerischen Gesandtschaft und der in Büschen versteckte, seltsam deplaziert wirkende Bunker, der in den dreißiger Jahren am Anfang der Alsenstraße errichtet worden war. Wer glaubt, daß hier im Zweiten Weltkrieg ganze Arbeit geleistet wurde und Bomben und Granaten das Viertel niedergemäht haben, der kennt nur die halbe Wahrheit.

Die Zerstörung des Viertels begann bereits zu „Friedenszeiten“, als die Nazis allerdings schon ihren innenpolitischen Feinden den Krieg erklärt hatten und auch in Berlin vieles ihren Plänen buchstäblich im Wege stand. Die gigantomanischen Pläne der Nazis sahen die Umgestaltung Berlins zur „Welthauptstadt Germania“ bis zum Jahr 1950 vor.

Dort, wo das Alsenviertel stand, sollte nach Plänen des „Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt Berlin“, Albert Speer, eine riesige Halle gebaut werden, die etwa 290 Meter hoch sein sollte und Platz für 150.000 bis 180.000 Menschen geboten hätte. Dem Plan waren die Stadtvillen und Häuser des ganzen Viertels zwischen dem Generalstabsgebäude und dem Reichstag im Wege. Die Grundstückseigentümer wurden 1938 kurzerhand enteignet. Den ausländischen Vertretungen bot man zum Tausch Ersatzgrundstücke am südlichen Rand des Tiergartens an, wo die Dänen und Norweger 1940 auch freundlicherweise hinzogen. Der Umzug der Schweizer scheiterte, weil 1940 der Neubau bei einem Bombenangriff zerstört wurde.

Im Sommer 1938 begannen die Abrißarbeiten im Spreebogen, die Häuser wurden ausgeräumt, Fenster und Türen demontiert und Mauer für Mauer abgerissen. Die Siegessäule vor dem Reichstag wurde abgetragen und an neuer Stelle am Großen Stern im Tiergarten aufgestellt. Gleichzeitig begann für die „Große Halle“ der Ankauf von Granit und Marmor in halb Europa. Bei der Zerstörung des Alsenviertels wurden die Nazis im Laufe des Zweiten Weltkrieges von den britischen und US-amerikanischen Bombern abgelöst. Schließlich ist der übriggebliebene Rest den Endkämpfen im April 1945 zum Opfer gefallen, als Hunderte deutscher Soldaten, die sich im Reichstag verschanzt hatten, sinnlosen Widerstand gegen sowjetische Truppen leisteten. 1945 war das Alsenviertel ein einziges Trümmerfeld.

Die Reste der dänischen Botschaft, laut Schadensbescheid vom 10. Mai 1951 zu 95,8 Prozent zerstört, wurden am 3. und 4. März 1948 in die Luft gesprengt. Dafür stellte die Spezialfirma Hamann, Spandau, dem Bezirksamt Tiergarten 3.812,25 Mark in Rechnung. Über das Alsenviertel konnte Gras wachsen. Damit waren aber noch nicht alle Spuren der Häuser beseitigt. Erst im Herbst 1962 wurden die Fundamente der Häuser ausgegraben und abgeräumt. In der Abräumakte der Alsenstraße 4 ist am 16. Oktober 1962 notiert: „Die Abräumarbeiten sind beendet. Das Kellermauerwerk ist entfernt und die Hohlräume sind bis in Gehweghöhe mit Feinschutt verfüllt worden. Es ist nichts mehr zu veranlassen.“

Neue Baupläne

Die Abräumnotiz läßt auf weitere Überraschungen hoffen. Bald soll das frühere Alsenviertel zum zweiten Mal bebaut werden. Nach Plänen der Architekten Charlotte Brand und Axel Schultes soll ein Riegel von Parlaments- und Regierungsgebäuden über den Spreebogen bis zu den Stadtteilen Mitte und Moabit gezogen werden. Der Kanzler soll sein Haus dort bekommen, wo er 1987 Berlin das „Deutsche Historische Museum“ gebaut sehen wollte und wo früher das Generalstabsgebäude stand, das die Sowjets im Zweiten Weltkrieg nur das „Haus Himmlers“ nannten.

Wenn vielleicht 1995 die Baugruben für die Gebäude ausgehoben werden, sollten die Stadtarchäologen zur Stelle sein. Schon mehrfach sind in der Vergangenheit bei ähnlichen Gelegenheiten Überraschungen zu Tage gefördert worden, weil die Abbruchfirmen zwar viel in Rechnung gestellt, aber weniger getan haben als versprochen. Wir werden sehen, was sich von der alten dänischen Botschaft und den anderen Häusern des Alsenviertels noch unter der Grasnarbe verbirgt.

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