■ Geschichte von einem, der lange nicht schreiben konnte:: „Ich habe die alle gelinkt!“
Berlin (taz) – „Meine Arbeitskollegen, die haben bis heute nichts gemerkt“, erzählt Werner von Berg vergnügt. Daß der 53jährige Chemielaborant etwas zu verbergen hat, ahnt keiner. Verheiratet, zwei Töchter, kleines Häuschen in Steglitz; alles ganz normal und durchschnittlich. Bis auf ein kleines Detail: Er kann nicht schreiben.
Werner von Berg ist einer der etwa 30.000 Analphabeten, die – so Schätzungen der Unesco – bis 1989 allein in West-Berlin lebten. Seit der Wiedervereingiung steigen die Quoten kontinuierlich an, doch genaue Zahlen kennt keiner. Denn egal, welcher sozialen Schicht oder Generation sie angehören, Analphabeten führen meist ein Schattendasein. Auch Werner von Berg kennt so ziemlich alle Tricks, seine Unsicherheit zu verbergen. Brille vergessen, Hand verstaucht, tausend Ausreden hat er immer auf Lager, um nicht enttarnt zu werden. „Für die Leute bist du doch das Letzte vom Letzten, wenn du zugibst, nicht schreiben zu können.“ Doch auf die Idee, seine Eltern für die Misere verantwortlich zu machen, kam er nie. Der Vater, ein ostpreußischer Gutsinspektor, fing 1945 zusammen mit der Mutter am Fließband einer Berliner Fabrik an. „Die haben viel geackert und wenig geredet.“ Als das zweite der vier Kinder mit acht Jahren in der Schule kapituliert, merkt keiner etwas. „Die Lehrer haben einfach zugeschlagen, wenn ich Schwierigkeiten hatte.“ Dann kommt die Sonderschule, und schon bald geht Werner einfach nicht mehr hin. „Ich habe angefangen, Autos anzumalen und auseinanderzubauen.“ Während andere beim Diktat schwitzten, frisierte er Motorräder und Rennwagen. Irgendwann kam er auf die Idee, zusammen mit seinem Bruder Avus-Rennen zu fahren, in seinem ersten Autobianchi.
Der Bruder bleibt später in der Autobranche, für Werner von Berg beginnt eine Odyssee durch die Berufswelt. Er arbeitet als Maurer und Spiegelbeleger, als Glasschleifer und Tierpfleger. Sein Traumberuf – ausgerechnet – ist Schriftenmaler. Doch schreiben kann er immer noch keine Silbe.
Am Arbeitsplatz überspielt er seine Defizite durch überdurchschnittliche Leistung und ein gutes Gedächtnis. Aber der Druck bleibt. „Nie zu gut werden, sonst kommt alles raus“, heißt die Devise. Der berufliche Aufstieg, ein neuer Computer oder die Wahl in den Betriebsrat, alles ein Alptraum. Denn bessere Jobs, größere Verantwortung und mehr Geld, das bedeutet gleichzeitig immer auch Schreibarbeiten. Für Werner von Berg wird jede Beförderung zur Kündigung, immer öfter schmeißt er alles hin, verschwindet einfach. Bis er in einem großen Berliner Forschungsinstitut eine Arbeit findet, die ihm wirklich gefällt. Seine Frau erledigt heimlich den Schreibkram, und ohne eine einzige chemische Formel zu kennen, beginnt er als Aushilfe in einem Labor, stellt Bakterienkulturen her, führt Gesundheitskontrollen und Lebensmitteltests durch. Heute leitet er eine eigene Abteilung, hantiert mit lateinischen Formeln, verhandelt mit Ärzten und notiert Rezepte. Was er nicht schreiben kann, hat er Buchstabe für Buchstabe auswendig gelernt.
Für seine Kollegen ist Herr von Berg eine respektable Person geworden. Doch was ihn jetzt ärgert, das sind Leute, die sich bei ihm anbiedern und über Arbeitslose herziehen wollen: „Wenn die wüßten, ich kann noch nicht mal schreiben. Eigentlich bin ich unheimlich stolz, daß ich die alle so gelinkt habe.“
Werner von Berg hat sich inzwischen seinen Traum erfüllt und schreiben gelernt. Und obwohl er beim Volkshochschulkurs in Neukölln längst alles kann, kommt er noch immer jede Woche. So ganz normal zu sein, das kann er sich auch jetzt noch nicht vorstellen. Constanze v. Bullion
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