: Auf dem sonnigen Hügel der Frösche
Guanajuato, die koloniale Schönheit in Zentralmexiko, reizt die Trumpfkarte Kultur voll aus / Studenten servieren Zwischenspiele von Cervantes / Vor dem Mumienmuseum stehen die Lebenden Schlange ■ Von Günter Ermlich
Musik liegt in der lauen Abendluft. Vor der Kirche San Diego und dem Juarez-Theater umringen meist junge MexikanerInnen eine Musikanten-Gruppe. „Es una callejoneada“, antwortet mir der schnauzbärtige Polizist auf Anfrage; ich solle mich einfach in den aufbrechenden Menschenzug einreihen. Die callejoneada entpuppt sich als mexikanische „Rattenfänger von Hameln“-Variante. Vorneweg stiefeln fünf in schwarzem Samt gewandete Troubadoure, spielen Gitarre und Mandoline und säuseln dazu. Dahinter ziehen wir eingefangenen Zuhörer und -seher im großen Pulk hügelrauf, hügelrunter, treppauf, treppab durch das Gewirr von Gassen und Gäßchen. An lauschigen Plätzchen halten die Troubadoure inne und intonieren drei bis fünf Couplets, vom lustigen Studentenleben, von Schmerz und Liebe – und natürlich vom genußreichen Trinken (beber es un placer). Die jungen Leute, die mit Rotweinfusel gefüllte Karaffen ausgiebig kreisen lassen, kennen die Couplets aus dem Effeff, singen-tanzen-schunkeln mit. Die Rattenfänger nennen sich estudiantinas, studentische Minnesänger. Vor dreißig Jahren wurde hier in Guanajuato diese kulturelle Tradition aus der spanischen Kolonialzeit wiederaufgenommen.
Guanajuato, die Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates in Zentralmexiko, liegt eingebettet in einem schmalen Tal etwa 320 Kilometer (fünf Autobus-Stunden) nordwestlich von Mexiko-Stadt. Callejonear, das ziellose Herumstreifen durch die gewundenen Straßen und verwinkelten Gäßchen (callejones) mit so poetischen Namen wie „Muschel“, „Mond“, „Christuskind“ oder „Hölle“, ist der beste Weg, Guanajuatos Charme einzufangen. Jede/r nicht zu beleibte Tourist/in wird sich garantiert durch das 68 Zentimeter breite callejón del beso (Kußgäßchen) zwängen.
Schön restaurierte Kolonialgebäude in Pastellfarben, luftige Patios (Innenhöfe) mit Brunnen, romantische Plätzchen, mit Blumentopfbatterien vollgestopfte Balkone und Treppenaufgänge, üppig überbordende Barockkirchen. Und mittendrin die neoklassische Markthalle, eine Mischung aus Bahnhof und Kathedrale, von Eiffel, dem Pariser Turmbauer. Die erst 1955 errichtete Universität mit einer Fassade aus maurischen Stilelementen erhebt sich wie eine schneeweiße Burg über der Stadt.
Unbestritten gesellschaftlicher Mittelpunkt und soziales Sahnehäubchen ist der dreieckige Jardin de la Unión. Der wohl intimste zcalo (Zentralplatz) ganz Mexikos läuft spitzwinklig zu und hat in seiner Mitte einen gußeisernen Pavillon und zwei Brunnen. Eine Galerie von dichten, sorgfältig beschnittenen und tief herunterhängenden Lorbeerbäumen säumt den Platz und spendet Schatten. Liebespärchen sitzen aneinandergeschmiegt auf den grünen Bänken, Kinder in Schuluniformen stehen lachend beieinander, Gruppen spielen Mariachi- oder Ranchero-Musik. Viele fliegende Händler, Ballonverkäufer, Schuhputzer, zwitschernde Vögel. Vor den Restaurants „El Gallo Pitagorico“ und „Hotel Posada Santa F“ stehen Tische, das Essen wird vor den Augen der Gäste zubereitet.
1988 kam die Unesco nicht umhin, Guanajuato in die „Liste des Weltkulturerbes“ aufzunehmen. Doch das architektonische Kleinod stößt mit seinen 130.000 Einwohnern an die Grenzen seines Wachstums. Der neue Busbahnhof wurde zwölf Kilometer vor der Stadt angesiedelt, um die lauten, stinkenden Überlandbusse aus der beengten Stadtschlucht zu verbannen. Zum Glück fließt der Hauptverkehr in dem engen Talkessel weitgehend durch das unterirdische Straßen- und Tunnelsystem.
Es ist Sonntag, der mexikanische Familientag. Hoch droben an einem Hügel über der Stadt neben dem Friedhof. Vor dem Mumienmuseum stehen wir Lebenden Schlange und warten auf Einlaß ins Reich der exponierten Toten. Zur Zeit befänden sich 108 Mumien in der Ausstellung, darunter drei Ausländer, erzählt unser Mumienführer. Die jenseitigen Gestalten stehen, hocken oder liegen in Glasvitrinen. Manche sind nackt, andere in voller Montur, viele mit weit aufgerissenen Mündern und langen Fingernägeln (die Hornhaut wächst nach dem Tod noch zwei, drei Monate weiter). Ein französischer Arzt, 1865 aus dem benachbarten Friedhof ausgebuddelt, ist mit 128 Jahren die älteste Mumie. Die Methode der Einbalsamierung ist natürlich: Der mineralhaltige Boden rund um Guanajuato ist wie geschaffen zur Leichenmumifizierung.
Wir erfahren einige Todesschicksale „hinter“ den Mumien- Exponaten: Einer wurde per Dolchstich ins Jenseits befördert. Ein revolutionärer Soldat, im Jahr 1914 erschossen, hat noch Blutflecken an der Montur. Eine Frau, die Arme vor dem Gesicht gekreuzt, wurde lebendigen Leibes begraben. „Die kleinste Mumie der Welt, ein Fötus, fünf bis sechs Monate alt, nur 29 Zentimeter groß“ präsentiert unser Mumienführer als Top-Attraktion. Karikaturen sorgen in diesem Horrorkabinett für Entkrampfung: etwa ein noch im Tode lüsternes Skelett mit Sombrero, das einer Mumie mit Korb hinterhersteigt.
Der Mumien-Expreß rollt. Rastlos treibt uns der Mumienführer durch die Räume. Wie seine Kollegen lebt er nur vom Trinkgeld. Draußen vor der Tür bedrängen mich Souvenirhändler. Ich kann mich nicht recht entschließen, eine in Plastik verpackte Karamel-Mumie mitzunehmen.
Wer es weniger makaber möchte, besuche das ins Museum verwandelte Geburtshaus des großen Maestros Diego Rivera, dem berühmten Muralisten (Freskenmaler) Mexikos. Oder gehe ins Museum der Legenden, von denen Guanajuato voll ist. Oder begebe sich ins Don-Quijote-Museum an der Plazuela San Francisco. Seit 1987 hat dort der Ritter der traurigen Gestalt ein ganzes Museum für sich allein. Die einzigartige Sammlung (eine Schenkung des exilierten Spaniers Eulalio Ferrer zum Dank für die gastfreundliuche Aufnahme in Mexiko 1941) mit achthundert Exponaten demonstriert nachhaltig, wie sich (Volks-)Künstler vieler Länder und Stilrichtungen in drei Jahrhunderten an „Don Quijote“ abgearbeitet haben.
Desmond O'Shaughnessy sitzt der Schalk im Nacken. Alle nennen den Iren, der vor siebzehn Jahren hier hängenblieb, nur Señor Desmond. Er ist zuständig für internationale Tourismusförderung. Neben seinem Job im turismo gibt er an der Uni Kurse in Englisch und Betriebswirtschaft. Guanajuato lebe von der Verwaltung (Regierungssitz), der Universität (neuntausend Studenten), immer noch von den Silberminen und hoffentlich immer mehr vom Tourismus. Die Schautafel im Patio zeigt, daß Guanajuato die touristische Kurve gekriegt hat: die prozentuale Auslastung der Unterkünfte, die Tourismuseinnahmen und die absolute Gästezahl gehen seit 1987 stetig nach oben.
In Guanajuato trägt man Kultur, hier leben die schönen Künste förmlich auf. Beileibe nicht nur für Touristen. Da ist schon das rege Uni-Leben vor. Miguel de Cervantes, der „Don Quijote“-Schöpfer, ist der unbestrittene künstlerische Schirmherr. Auf der pittoresken Plazuela San Roque „servieren“ Studenten schon seit 1953 entremeses cervantinos („cervantinische Zwischenmahlzeiten“), komödiantische Zwischenspiele von Cervantes. Aus dieser Guanajuato- Spezialität erwuchs 1972 das „Festival Cervantino“, seitdem das kulturelle Großereignis Mexikos schlechthin.
In den siebziger Jahren, als Mexiko während der Präsidentschaft López Portillos sich im ewigwährenden Öl-Frühling wähnte, startete es durch zum international hochkarätigen Kulturfestival für Theater, Konzert, Oper und Ballett. Alles, was gut und teuer war, von Leonard Bernstein bis Rudolph Nurejew, von den Wiener Philharmonikern bis zum Bolschoi-Ballett, wurde angeheuert. Heute, in den Zeiten mexikanischen Maßhaltens, ist das Festival auf ein nationales Normalmaß zurechtgestutzt.
Überall im Ortszentrum stehen Bergwerksloren museumsreif auf Bürgersteigen und Plätzen. Mal mit Kakteen bepflanzt, mal riesengroßer Abfalleimer. Ausrangierte Zeugen der glorreichen Vergangenheit. 1529 machten sich die spanischen Konquistadoren die Stadt untertan, die bis dahin von Indios besiedelt war und in der Tarasken- Sprache cuanaxhuata („Hügel der Frösche“) hieß. Die Spanier tauften sie später in Guanajuato um, für unsereins immer noch ein Zungenbrecher. 1548 entdeckten die raffgierigen Spanier unter den „Froschhügeln“ die erste Silbermine. Es folgten immer mehr Minen, immer mehr Ausbeutung, immer mehr Arbeiter. Die Bergwerksstadt wuchs sich im Beutefieber anarchisch aus – und hat daher so wenig gemein mit dem schachbrettartigen Grundriß anderer Kolonialstädte. Dafür gibt es noch heute vierzig haciendas mineras, koloniale Prachtbauten (einige sind jetzt Hotels), die vom Reichtum der Grubenbesitzer erzählen.
Die eigentliche bonanza begann 1740 dank der Mine Valenciana, die über Jahrzehnte allein rund ein Viertel der Weltsilber-Produktion aus ihren Adern zutage förderte. „Guanajuato ist das Freiberg Neu- Spaniens“, notierte Alexander von Humboldt in sein Reisetagebuch auf seinem einmonatigen Inspektionsbesuch im Spätsommer 1803. „Die großen Gruben von Rayas, Mellado und Valenciana stellen Dörfer oder kleine Städte dar. Valenciana vor allem ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie die Gruben in kurzer Zeit einen einsamen Platz bevölkern können.“
Und heute? Eine jahrhundertealte Feldsteinmauer aus sechs spitzen Zacken, Symbol der spanischen Krone, umgibt das „Valenciana“-Areal. Am Eingang eine kleine Verkaufsausstellung für Schmuck. Gepflegter englischer Rasen mit Sprinklern und Blumenrabatten. In der Nähe des Förderturms steht eine ausgediente Lore. Darin ein Klingelbeutel, dahinter ein Heiligenbildnis, von zwei Blumensträußen flankiert. Oh wie so trügerisch, diese Alles-in-Butter- Idylle.
Schichtwechsel. Nur acht mineros lassen sich im Fahrstuhl in den tiefschwarzen Schacht hinunterfahren. Auf lediglich 295 Meter wird zur Zeit gegraben, obwohl die tiefste Stelle 525 Meter ist. Seit mehr als zwei Jahren versuchen die Kumpel, mit einer unterirdischen Pumpe die beiden tiefer liegenden überfluteten Stollen zu entwässern. „Uns fehlt einfach das Geld“, erzählt mir Emilio, der Sicherheitschef der Kooperative, und schaut dabei etwas traurig aus. „Wir müßten tiefer bohren, bis 700 Meter, um noch mehr rauszuholen.“ Die Ausbeute der Schufterei – der tägliche Grundlohn der mineros beträgt 20 bis 24 Pesos (zehn bis zwölf Mark), im Akkord 30 bis 40 Prozent mehr – ist nicht gerade berauschend: fünf Gramm pro Tonne beim Gold, 150 bis 200 Gramm beim Silber. Außerhalb des heutigen Areals zeigt mir Emilio einige Mauerreste und einen Schachtausgang, der mit Draht vergittert ist und aus dem Unkraut heraussprießt. „Der ganze Cerro ist ausgebeutet, von einem System von Stollen und Schächten untertunnelt.“
Die Kooperative, die seit 1939 besteht und 670 Mitglieder zählt (sie betreibt noch andere Minen), ist „heute praktisch bankrott“, gesteht der Geschäftsführer. Neben der geringen Ausbeute sei der Weltmarktpreis für Edelmetall drastisch gefallen. Da wird auch der 600-Millionen-Peso-Kredit des Bundesstaats Guanajuato ihr kaum wieder auf die Beine helfen, obwohl Gutachten über zwei Nachbarminen noch einige Reserven versprechen.
Geschichtlich gesehen ist Guanajuato ein heißes Pflaster gewesen. Die festungsähnliche Alhóndiga de Granaditas, heute Museum für Geschichte und regionales Kunsthandwerk, war blutiger Schauplatz im mexikanischen Unabhängigkeitskampf gegen die Spanier (1810–1821). Das aufständische Heer unter Padre Hidalgo, der die Abschaffung der Sklaverei und Zwangsarbeit im nahen Dolores herausgeschrien hatte, hatte Guanajuato bereits in seiner Hand, doch die Königstreuen verbarrikadierten sich in dem ehemaligen Getreidespeicher, bis Juan José Martinez, ein junger draufgängerischer Bergarbeiter, das Tor in Brand setzte und die Festung Alhóndiga einnahm. Nach Niederschlagung des Aufstands rollten die Köpfe von Hidalgo und den anderen caudillos de la revolución. Zur Schau und Abschreckung wurden ihre enthaupteten Köpfe in vier Käfigen öffentlich ausgehängt.
Juan José Martinez hingegen, mit dem süßen Kosenamen pipila („der kleine Truthahn“), ist seither der Volksheros. Als abscheuliche Denkmalsausgeburt hat er von einem Felsvorsprung aus den besten Aussichtsplatz über die ganze Stadt. Abends, wenn pipila in gleißendes gelbes Licht getaucht ist, turteln in seinem Schatten Liebespärchen. Drunten von der Stadt dringt der Glockenschlag einer Kirche, das langgezogene Zirpen eines Vogels, das entrückte Knattern der Stadtbusse und gedämpfte Bellen der Hunde.
Das 18. Internationale Festival Cervantino findet in den beiden ersten Wochen im Oktober dieses Jahres statt. Information: Staatliches Mexikanisches Fremdenverkehrsamt, Wiesenhüttenplatz 26, 60329 Frankfurt/Main, Tel.: 069/ 253413 oder 253541
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