■ Tschetschenien und Bosnien: Wie der oberste deutsche Soldat die Dürftigkeit Bonner Regierungsargumente darlegte: Kein Militäreinsatz ohne Konsens
Die Wirklichkeit stellt Analysen und Strategieplanungen manchmal schneller auf die Probe, als es den Autoren solcher Papiere lieb ist. Angesichts aktueller Entwicklungen lohnt deshalb auch der Blick zurück auf Grundsatzschriften. Etwa auf das im Mai vergangenen Jahres im Berliner Siedler-Verlag erschienene Buch „Die Bundeswehr in einer Welt im Umbruch“ von Generalinspekteur Klaus Naumann, in dem der ranghöchste deutsche Offizier zu inzwischen aktuell gewordenen Konflikten deutlich andere Haltungen einnimmt, als es die Bonner Minister und Regierungssprecher derzeit tun.
Das erste Argument der Bundesregierung zum russischen Sturm auf Grosny lautet seit Tagen stereotyp: „Das ist ein innerrussischer Konflikt.“ Obwohl sie in der Bombardierung von Wohngebieten eine Menschenrechtsverletzung sieht, übte die Bonner Regierung also öffentlich keinen massiven Druck auf Jelzin aus. Ängste in ost- und mitteleuropäischen Staaten vor russischer Dominanz sind mehr als verständlich. Aber auf die Frage, ob der Krieg in Tschetschenien die Pläne zu deren Aufnahme in die Nato beeinflusse, erklärte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes Anfang der Woche: „Ich erkenne keinen Zusammenhang.“
Der Generalinspekteur der Bundeswehr hat aber auf genau diesen Zusammenhang schon vor Monaten hingewiesen. In seiner Analyse der Bedrohungslage für die Bundesrepublik beschrieb der ranghöchste Bundeswehroffizier das zerfallende Weltreich als möglichen Krisenherd und ging dabei auch auf tschetschenische Separationsbestrebungen ein. Im russischen Militär, so referierte er, sei der Wunsch tief verwurzelt, auch jenseits der Grenzen der Russischen Föderation Führungsmacht zu spielen.
Die westliche Welt, so warnte Naumann, fördere ein derartiges Denken, „wenn sie der Russischen Föderation die ordnende Hand bei den Konflikten im Kaukasus überläßt und selbst im Punkt einer Erweiterung der Nato nicht weit davon entfernt ist, Rußland ein droit de regard (Mitspracherecht, d. Red.) zu erteilen.“ Naumanns Resümee: „Es geht darum, einen Rückfall in russischen Autismus zu verhindern, doch mit Appeasement wird dies nicht zu erreichen sein.“ Wie aber ist das gegenwärtige Bonner Verhalten gegenüber den russischen Attacken auf Grosny zu nennen, wenn nicht Appeasement? Und muß die lediglich milde Kritik aus dem Westen den russischen Militärs nicht wie ein Bonus für ihr brutales Vorgehen in Tschetschenien erscheinen?
Auch zur Frage eines möglichen deutschen Militäreinsatzes in Bosnien brachte Naumann vor einem Dreivierteljahr andere Argumente vor als die Bonner Regierungssprecher in den vergangenen Wochen. Ginge es nach den Thesen seines Buches vom Mai 1994, so wären deutsche Tornado-Einsätze in Ex-Jugoslawien in nächster Zeit wohl ausgeschlossen.
Denn der ranghöchste deutsche Offizier legte größten Wert darauf, daß die Bundeswehr bei ihren Aufgaben „breite Unterstützung in der Gesellschaft“ erfährt. Ein militärischer Einsatz, so schreibt er, müsse „so begrenzt werden, daß im eigenen Land die Unterstützung der Bevölkerung erhalten bleibt und im Gebiet des Konfliktgegners der Durchhaltewillen nicht gestärkt wird“. In der Bundesrepublik aber gibt es Umfragen zufolge keine Mehrheiten für deutsche Kampfeinsätze oder als humanitäre Einsätze ettikettierte Kampfeinsätze in Ex-Jugoslawien. Und beim serbischen Konfliktgegner würden deutsche Kampfbomber möglicherweise nicht nur den Durchhaltewillen stärken, sondern atavistische Wut und Kampfeswillen geradezu provozieren.
Ganz entschieden schließlich wandte sich Naumann im Mai noch gegen übereilte und nicht durchgeplante Waffengänge: „Wozu es aber auf keinen Fall kommen darf, das ist der Einsatz militärischer Macht aus Gründen eines politischen Aktionismus.“ Das politische Ziel einer Operation müsse genau umrissen sein: „Ebenso muß vor Beginn einer militärischen Operation geklärt sein, wie weit man zu gehen gedenkt. Unverändert bleibt das alte Prinzip gültig: Eingreifen heißt durchgreifen. Entscheidet man sich für den Einsatz militärischer Mittel, muß man ferner kalkulieren, daß es Verluste geben kann.“ Verluste an Menschenleben, so referiert Naumann an anderer Stelle, würden vermutlich auch rein humanitäre Einsätze kosten.
Von alldem aber war in den vergangenen Wochen in den offiziellen Bonner Erklärungen keine Rede, die Möglichkeit einer Eskalation konnte niemand ausschließen. Naumann selbst steht mittlerweile im Verdacht, die Tornado-Anfrage aus Brüssel lanciert zu haben. Handelt der Generalinspekteur heute gegen seine Überzeugung? Oder waren die Forderungen nach gesellschaftlichem Konsens, Ehrlichkeit und Überschaubarkeit der Operationen nur Lippenbekenntnisse? Oder aber wandeln sich Überzeugungen des ranghöchsten deutschen Militärs angesichts von Entwicklungen, die er doch selbst vorhergesehen hat, innerhalb weniger Monate? Der Verläßlichkeit deutscher Sicherheitspolitik würde auch die dritte Hypothese kein gutes Zeugnis ausstellen.
Wahrscheinlicher aber ist, daß die Bundesregierung sich in ihrer Argumentation angesichts der widerstrebenden öffentlichen Meinung so falsch verhält, wie es die meisten deutschen Parteien auch tun: Die SPD ist in der Bosnien-Frage gespalten, aber ihre Außenpolitiker leugneten das bislang schlicht und redeten über Verfahrensfragen. Die Mehrheit der grünen Pazifisten stellt sich dem Problem der militärischen Hilfe für von Vernichtung Bedrohte ernstlich gar nicht. In der CDU haben nur einzelne den Mut, deutlicher als die Bundesregierung zu werden, die nicht für klare Schritte wirbt, sondern sich hinter vermeintlichen politischen Zwängen versteckt.
Vielleicht ermutigt auch die Erfahrung der deutschen Nachkriegsgeschichte die Bundesregierung und die Bundeswehrführung zu ihrer Camouflage-Taktik: Auch die Wiederbewaffnung ist anfangs zunächst heimlich vorbereitet und dann gegen breiten gesellschaftlichen Widerstand durchgesetzt worden, um schließlich von der überwiegenden Mehrheit der politischen Kräfte als politisch gerechtfertigt und notwendig akzeptiert zu werden. Das ist zwar eine historische Tatsache, darf aber trotzdem nicht als Beweis dafür mißverstanden werden, daß nicht auch eine offene Diskussion über Risiken und Notwendigkeiten deutscher Militäreinsätze im Ausland ein vernünftiges Ergebnis bringen könnte. Hans Monath
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